Publiziert am 28. März 2017 von Kathleen Bühler

Talking about a revolution

In zwei Wochen eröffnen wir die Ausstellung «Die Revolution ist tot. Lang lebe die Revolution!». Bis dahin servieren wir täglich ein Häppchen Wandel im Interview mit Kathleen Bühler.

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Vladimir Dubossarsky / Alexander Vinogradov, What the Homeland Begins With, 2006, Öl auf Leinwand, 295 × 780 cm (Auschnitt) © The Artists

Dieses Jahr gibt es zahlreiche Ausstellungen zur russischen Revolution. Warum widmen das Kunstmuseum Bern und das Zentrum Paul Klee diesem Ereignis ebenfalls eine Ausstellung?

Es gibt verschiedene Gründe, die Ausstellung zu realisieren. Zum einen wurde vor 100 Jahren die Kunst in zwei Pole aufgeteilt, die sie heute noch bestimmen: nämlich die abstrakte und die realistische Kunst. Diese Polarität hat die Kunstgeschichte geprägt und ist doch eng verbunden mit dem Revolutionären. Denn zuerst war es eine ästhetische Revolution, die durch die russische Avantgarde angezettelt wurde, welche sich in den Dienst der gesellschaftlichen und politischen Revolution stellen wollte. Doch hat sich Stalin dafür entschieden, dass die realistische Kunst, die Revolution und vor allem den Sozialismus verkörpern soll. Auf verschiedenen Ebenen eröffnet dieses Thema die Möglichkeit, unsere Definition von Kunst sowie unser Verständnis von Revolution zu befragen.

Gibt es einen Bezug zu Russland oder speziell zur russischen Kunst in den beiden Häusern?

Im Kunstmuseum Bern gab es immer wieder Ausstellungen mit russischer Kunst und existierte dank Staatssekretär Paul Jolles seit den 1980er Jahren ein reger Austausch mit russischen Künstlern. Wir konnten seine Tochter, Claudia Jolles, welche die ersten Ausstellungen von Ilya Kabakov und Erik Bulatov im Westen organisiert hatte, gewinnen, in unserem Katalog über diese Künstler zu schreiben und auf einem Rundgang durch die Ausstellung, davon zu erzählen. Das Bauhaus und damit Paul Klee wären auch nicht denkbar gewesen, ohne den Aufbruch der russischen Avantgarde. Wir haben also in beiden Häusern gute Gründe, dieses Jubiläum nochmals unter die Lupe zu nehmen. Doch geht es natürlich auch um unser heutiges Verhältnis zur Revolution. Was hat sie uns gebracht? Können wir die darauf folgende Aufteilung der Welt und der Kunst heute mit neuen Augen betrachten oder sind wir immer noch dem polarisierenden Kalter-Krieg-Denken verhaftet? Und ist die Aufteilung immer noch dieselbe? Ist die abstrakte Kunst die avantgardistische und die realistische die rückständige? Ist nur realistische Kunst politisch und ideologisch geprägt, nicht auch abstrakte? Diese Fragen wollen wir ebenfalls aufwerfen.


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Kasimir Malewitsch (1878 – 1936), Suprematistische Komposition, 1915, Öl auf Leinwand, 80,4 x 80,6 cm. Fondation Beyeler, Riehen/Basel, Sammlung Beyeler. Foto: Robert Bayer, Basel

Wo ist der Unterschied zwischen der politischen und der künstlerischen Revolution? Bedingen sie einander?

Schon als ich mich während des Studiums mit den 1960er Jahren und der damaligen gesellschaftlichen Revolution beschäftigte, fiel mir auf, dass die ästhetische Revolution nur bedingt mit der politischen zusammenfällt. Oftmals liegt das Revolutionäre zwar in der Luft und wird der Geist des gesellschaftlichen Umbruchs in der Kunst sichtbar, doch lässt sich ästhetisch fortschrittliche Kunst nicht für politische Meinungsmache einsetzen. Denn häufig haben Politiker – und seien sie Berufsrevolutionäre – einen eher konservativen Geschmack. Das war sowohl bei Stalin wie bei Lenin der Fall. Ausserdem soll eine Revolution von einer kleinen Zelle auf eine Mehrheit in der Bevölkerung übergreifen und muss die revolutionäre Kunst daher massentauglich sein. Aus Erfahrung wissen wir aber, dass ästhetisch anspruchsvolle Kunst nur Wenige anspricht. Um ästhetisch revolutionär zu sein, muss Kunst andere Eigenschaften besitzen, als sie haben muss, um politisch revolutionär zu wirken. Dies wird in unserer Ausstellung besonders gut sichtbar.

Das Thema liegt in der Luft. Die Oktoberrevolution jährt sich 2017 zum hundertsten Mal. Sie ist eine der Revolutionen, die uns im 20. Jahrhundert am stärksten beeinflusst hat. Die zukünftige Aufteilung in die kapitalistische und die kommunistische Welt, der Kalte Krieg und die ganze Rhetorik, Politik und Denkarten, die sich daraus entwickelt haben. 1991 ist das dann obsolet geworden, weil man fand, dass sich der Kommunismus erübrigt hat. Jetzt hat sich die Geschichte erledigt, dachte man zumindest …

Mittlerweile schreibt auch Francis Fukuyama, dass seine Prognose vom „Ende der Geschichte“ verfrüht war. Ausserdem haben die ehemaligen Sowjetstaaten die Folgen der Russischen Revolution noch nicht wirklich verdaut. Das zeigen aktuelle Konfliktherde und die Nachfolgerevolutionen in den neuen Staaten (Georgien, Kirgisien, Ukraine). Die Literatur aus jenen Ländern ist voller Erlebnisberichte und Spurenlesen – alles Versuche, die Auswirkungen der grossen Geschichte auf die einzelnen Lebensläufe zu verstehen und das lähmende Schweigen der ehemaligen Diktatur zu verdauen. Gleichzeitig ist die Frage an uns gerichtet, ob die Welt, nun da sie nur noch den Kapitalismus kennt, wirklich eine bessere geworden ist? Gibt es bei uns etwa kein Bedürfnis mehr nach einer Revolution?


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Alexander Samochwalow, Textilfabrik, 1929, Öl, Tempera auf Leinwand, 68 x 98 cm. Staatliches Russisches Museum, St. Petersburg © 2017 ProLitteris, Zürich

Wie die Geschichte ja gezeigt hat, hat sie sich nicht erübrigt. Wiedergänger tauchen auf, die wir nicht für möglich gehalten haben: Imperialismus, Nationalismus, die EU löst sich auf und so weiter. Dort, wo man das Gefühl hatte, dass sich die Ordnung der Welt bestätigt und vertieft hat, dort sehen wir, ist ganz viel Neues herausgekommen. Positives, auch sehr viel Schwieriges und auch sehr vieles, für das wir noch keine Lösung sehen. Das ist die Aktualität des Themas Revolution.

Darum geht das Thema für mich auch weit über das Künstlerisch-Ästhetische hinaus. Wir finden Revolution in der Kunst zwar etwas Positives, weil wir von der Kunst ständig neue Erfindungen erwarten; sie soll uns herausfordern, unterhalten und zum Denken anregen. Doch ist die Revolution in der Geschichte und in der Politik untrennbar mit Gewalt verbunden. Und das ist das Tragische daran, das Menschliche, für das es offenbar keine friedlich Lösung gibt: Eine an sich schöne und wichtige Idee – das Leben für viele Menschen zu verbessern, die Welt etwas gerechter zu machen – endet in Krieg, Tod und Totalitarismus. Das führt uns gerade Syrien wieder drastisch vor Augen.

Es gibt Historiker, die behaupten, dass die russische Revolution nicht 1917 stattgefunden hat. Sie habe eigentlich 1891 angefangen und bis 1991 gedauert. Die eigentliche Oktoberrevolution wäre nur ein Militärputsch gewesen. Orlando Figes, ein britischer Historiker, sagt, dass der Oktoberrevolution 5‘000 revolutionäre Ereignisse vorausgegangen sind. Sie war dann der Startschuss für den Aufbruch in den Sozialismus und die proletarische Revolution.

Die Geschichte ist eben doch komplexer und vielschichtiger als wir meinen. Doch wollen wir symbolkräftige Zeichen und feiern daher lieber einzelne Ereignisse. Das ist das Interessante an der Geschichte, dass man sie für die eigenen Zwecke instrumentalisiert und daher eine bestimmte Deutungsweise zurechtlegt. Die Art und Weise wie das offizielle Russland beispielsweise in diesem Jahr die Revolution feiert – oder eben nicht feiert –, sagt viel über jetzige Machtverhältnisse aus. (Putin sagt man nach, dass er sich eher am zaristischen Russland als an der Sowjetunion orientiert, obwohl er aus dem sowjetischen System herauskommt.) Die Gefahr ist ausserdem gross, dass wenn schlagartig ein gesellschaftlicher Umbruch erzwungen wird, dann das Pendel auch wieder in die andere Richtung ausschlägt. Obwohl die Sowjetunion 75 Jahre gedauert hat, ist das letztlich nur ein kurzer Abschnitt, gemessen an der Menschheitsgeschichte. Doch gehört es eben auch zum Wesen der Revolution, dass sie selten für alle Segen bringt, sondern neue Ungerechtigkeit sät und damit den Keim für die nächste Revolution legt. Das ist der Grund für unseren etwas rätselhaften Titel „Die Revolution ist tot. Lang lebe die Revolution!“.


Komar & Melamid The Origins of Socialist Realism (aus der Serie Nostalgic Socialist Realism), 1982 – 83 Öl, Tempera auf Leinwand, 183,5 x 122 cm Collection Zimmerli Art Museum at Rutgers University. Norton and Nancy Dodge Collection of Nonconformist Art from the Soviet Union © the artists

Komar & Melamid, The Origins of Socialist Realism (aus der Serie Nostalgic Socialist Realism), 1982 – 83, Öl, Tempera auf Leinwand, 183,5 x 122 cm Collection Zimmerli Art Museum at Rutgers University. Norton and Nancy Dodge Collection of Nonconformist Art from the Soviet Union © the artists

In den letzten zehn, fünfzehn Jahren haben wir einige Revolutionen kommen und gehen sehen: der Arabische Frühling, die Jasmin-Revolution, die Regenschirm-Revolution in Hongkong.

Genauso wie die Welt weiterhin in Bewegung bleibt, verändert sich auch die Kunst und ihre Wahrnehmung. In einer globalisierten Welt, in der weitere Kunstszenen, -traditionen und -begriffe dazukommen, kann man eigentlich nicht davon ausgehen, dass sich unsere Definition weiterhin unbestritten durchsetzt. Das ist das faszinierende und hoffentlich auch für uns befreiende daran. Seit den 1910er Jahren war die russische Avantgarde und damit die abstrakte Kunst gleichbedeutend mit moderner Kunst. Sie legte den Grundstein für unsere Kunstgeschichte der Moderne. Der Sozialistische Realismus hingegen galt als politische Propaganda und Kitsch. Zeitgenössische Künstler und Künstlerinnen, welche aus den ehemaligen Sowjetstaaten stammen und mit der Tradition des Sozialistischen Realismus aufgewachsen sind, verlangen vom Westen jedoch, dass er ihn differenzierter betrachtet, nur schon um die Errungenschaften der Abstraktion wirklich beurteilen zu können. Wir dürfen nicht vergessen, dass auch die Abstraktion in eine Erstarrung fiel und in den 1960er Jahren – zumal in der Schweiz – als Tyrannei der „Guten Form“ galt. Die 1980er Jahren entdeckten dann in der Malerei wieder die Gegenständlichkeit und eroberte sich das Terrain der Figürlichkeit zurück.


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Wolfgang Mattheuer, Die Flucht des Sisyphos, 1972, Öl auf Hartfaser, 96 x 118 cm. Galerie Neue Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden © 2017 ProLitteris, Zürich

Ist die Revolution ein gesellschaftliches Bedürfnis? Oder die Idee von einzelnen, die es dann schaffen, eine Mehrheit zu mobilisieren?

Beides. Es braucht natürlich gewisse Anführer, die das Unbehagen, das in der Luft liegt, und herrschende Missstände analysieren und in Worte fassen. Und das waren historisch gesehen oft sogenannte Berufsrevolutionäre. Diese schulten sich, indem sie frühere Revolutionen analysierten. Hier liegt der Grund, dass sie sich oft nicht für das Regieren eigneten. Denn sie verstanden zwar die Mechanismen der Revolutionen, aber nicht unbedingt diejenigen des Regierens und Machterhaltens.

Sind Revolutionen ein historisches Phänomen?
Das Unbehagen findet auch heute statt, selbst in der Schweiz. Man merkt, dass die Schere zwischen reich und arm auseinander klafft. Dass der Gesellschaftsvertrag zwischen uns allen irgendwie nicht mehr stimmt. In der demokratischen Welt weiss man nicht, was man von der letzten Präsidentenwahl in den USA halten soll. Wurde diese wirklich von Russland aus manipuliert, oder ist die Tendenz, dass sich Bevölkerungsgruppen nur noch in ihrer Social Media-Blase bewegen und austauschen, die wirkliche Gefahr für die Demokratie? Der Umstand, dass an allen Fronten nach wie vor für Demokratie, freie Meinungsäusserung, soziale Gerechtigkeit und Frieden gekämpft werden muss, macht das Thema aktuell.


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Weshalb habt ihr einen jungen Mann mit Badehosen als Motiv für eure Revolutionsausstellung genommen?

Weil Revolutionen Bewegungen sind, die eher von jüngeren Menschen ausgehen. Sie gehören noch nicht zu den Etablierten und wollen ihre Zukunft mit Verve gestalten. Die Frage ist mit diesem Sujet auch an die  jüngeren Menschen in unserer Gesellschaft gerichtet, wie sie es denn mit der Revolution halten? Ist sie tot oder steht sie gerade wieder auf? Sind die Pussy Hat-Märsche der letzten Zeit, die Occupy-Bewegung, der Tahrir-Platz, etc. ein Zeichen, dass wir unser System nochmal ändern wollen oder geht es uns allen zu gut, als dass wir einen wirklichen Wandel ins Auge fassen? Sind wir lieber eine Freizeitgesellschaft oder verteidigen wir unsere Werte gegen Angriffe von Aussen und von Innen? Merken wir überhaupt, wenn sie in Gefahr sind?

Was kann uns die revolutionäre Kunst sowie die damalige Aufteilung in abstrakte, geometrische und realistische Kunst dazu sagen?

Dass auch wir unsere Werte oder Konventionen ständig neu überdenken und überprüfen müssen. Was gilt heute, was galt damals? Was waren die Bedingungen, unter denen die Kunst entstand? Bisher galt die russische Avantgarde als Grundstock der modernen Kunst. Sie macht unsere Kunstgeschichte der Moderne aus. Doch wäre eine Geschichte nicht vollständig, wenn man nicht auch den anderen Teil als zweite Seite der Medaille in den Blick nehmen würde. Ausserdem haben wir heute mit der globalen Kunst und globalen Kunstgeschichte die Situation, dass wir bisher vernachlässigte oder nicht beachtete Bereiche, ernst nehmen und nochmals anschauen müssen. Das betrifft auch den sozialistischen Realismus. Es ist nicht einfach alles Kitsch, was nicht unserer Definition von Kunst entspricht. Künstlerisch hat der Sozialistische Realismus uns zwar nicht dieselben ästhetischen Impulse gebracht wie die russische Avantgarde. Aber dafür sind die ethischen Probleme, welche der Sozialistische Realismus aufwirft, dass eine von oben verordnete politische „Wahrheit“ dargestellt wurde und nicht die Wirklichkeit, von grösserer Aktualität. Mit den heutigen technischen Möglichkeiten, können wir die Wirklichkeit ständig, aus allen Blickwinkeln, in Realzeit wiedergeben. Jedoch wissen wir ebenfalls, dass dieser Realismus von A-Z manipuliert werden kann. Wir müssen also selber wachsam bleiben, um sicher zu gehen, dass uns nicht schon jemand eine „Wahrheit“ verkauft, welche in Wirklichkeit eine „alternative truth“ oder „alternative facts“ darstellt, während wir noch glauben, es gäbe nur die eine.


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Kasimir Malewitsch (1878 – 1935), Suprematistische Komposition (mit gelben, orangen und grünen Rechtecken), 1915, Öl auf Leinwand, 44.5 x 35.5 cm. Collection Stedelijk Museum Amsterdam, Ownership recognized by agreement with estate of Kazimir Malevich in 2008

Der Sozialistische Realismus, der zunächst als Propagandakunst gezielt eingesetzt wird, um eine geschönte Wirklichkeit zu zeigen, wird mit den Jahren Vehikel zur bitterbösen Abrechnung. Das ist doch erstaunlich, dass eine so «gefällige» Kunst, zu einer Stilrichtung wird, die uns dann Kunstwerke eines Georg Baselitz oder Jörg Immendorff  beschert.

Da ist die Chance, wenn man heute diese Kunstrichtung in ihrer längeren historischen Entwicklung anschaut, dass man dann ganz früh die Tendenzen erkennen kann, welche die von oben verordnete Botschaft unterwandert. Den Begriff des Sozialistischen Realismus hat es erst seit 1934 offiziell gegeben. Doch schon in den 30er-Jahren wirft ein amerikanischer Kunstkritiker dieser Kunstrichtung vor, Propaganda und Kitsch zu sein. Hier muss man eines klar sehen: Kunst ist sehr oft Propaganda im Dienste des Auftraggebers auch im Westen. Die ganze religiöse oder höfische Kunst war Kunst, welche den Auftraggeber und seine Position verherrlichte.

Was unterschied die russische Avantgarde, wie etwa Malewitsch von der Propaganda?  

Vom Stil und der Ausdrucksweise natürlich alles. Es ist das pure Gegenteil des Sozialistischen Realismus. Jedoch wollten Leute wie Malewitsch, Rodschenko oder El Lissitzky genauso die Gesellschaft verändern und die Welt verbessern. Auf diesen Umstand wies Boris Groys 1988, kurz bevor die Sowjetunion zusammenbrach hin. Er meinte, dass die russische Avantgarde einen genauso starken gesellschaftlichen Gestaltungsanspruch hatte wie die kommunistische Partei und dass die russische Avantgarde damit Stalin letztlich ins Gehege kam und deshalb ausgehebelt wurde. Die russische Avantgarde habe ihre Ambition, die Gesellschaft umzugestalten, zwar nur ästhetisch ausgelebt, doch war der Wille zur Macht genauso vorhanden. Das ist natürlich ein atemberaubender Vergleich, der jedoch als erster diese klassische Zweiteilung, welche unsere Ausstellung zeigt, in ein neues Licht rückt. Was beide Seiten verbindet, war, dass sie innerhalb beschränkter Ausdrucksmöglichkeiten agieren mussten. Die Sozialistischen Realisten innerhalb der von oben diktierten Themen und Malstile, die russische Avantgarde innerhalb des sich selbst auferlegten geometrischen Vokabulars von Dreiecken, Vierecken und Kreisen. Und beide Seiten haben versucht, eine ganze Welt damit zu erschaffen.


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Norbert Bisky, Ich will nachhause Mutti, 2003, Öl auf Leinwand, 125 x 180 cm. Privatsammlung, © 2017, ProLitteris, Zürich

Was könnte den Sozialistischen Realismus für ein heutiges Publikum interessant machen?

Es ist eine ganz fremde Bildtradition, die von einer heute verschwundenen Welt erzählt. Diese Welt ist bald nur noch in der Erinnerung vorhanden und wirkt doch noch im Untergrund fort. Ich denke, dass viele Dinge, welche in Russland oder den ehemaligen Sowjetrepubliken passieren, nicht verstanden werden können, ohne sich diese untergegangene (Bild-)welt vor Augen zu halten. Dann finde ich interessant, dass es eine Kunst und Revolution war, die sich stark an den Lebensumständen und der gesellschaftlichen Bedeutung von Arbeitern orientierte. Wir sind alle selbst „Arbeiter“, verbringen die meiste Lebenszeit bei der Arbeit und können hier eine Kunst betrachten, welche dem Arbeitersein Ehre und Bedeutung verleihen. Das ist ein anderes Lebensgefühl und eine andere Wertung, als das Gefühl machtloser Ausgeliefertseins, das wir in der postindustriellen, globalisierten Arbeitswelt oft haben.

Was könnte die Partei bewogen haben, den Sozialistischen Realismus zu propagieren?

Nach der Revolution und dem daraus entstandenen blutigen Bürgerkrieg stand die sowjetische Regierung vor dem Problem, dass sie eine proletarische Arbeiterrevolution ausrief, obwohl die russische Gesellschaft noch zu ¾ aus Bauern bestand, es also gar keine Arbeiter gab. Die gigantische Industrialisierung, welche angeschoben wurde, geschah parallel zur Umschichtung der russischen Bevölkerung. Der traditionelle Bauernstand wurde ausgerottet. Es kam zu systematischen Zwangsenteignungen und Zwangszusammenschlüssen zu Kolchosen mit 25 Millionen Opfern während der Stalinzeit. Und das ist für mich auch eine Frage, zu der es wohl nie eine Antwort gegeben wird: Wie kann man sein eigenes Volk so bluten lassen? Das war fast ein Viertel der Bevölkerung.


… morgen mehr


Alles zur Ausstellung «Die Revolution ist tot. Lang lebe die Revolution!» unter www.lang-lebe-die-revolution.ch

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Autor

Kathleen Bühler

Kathleen Bühler, Kuratorin und seit 2008 Leiterin der Abteilung Gegenwartskunst am Kunstmuseum Bern. Sie kuratierte unter anderem die Ausstellungen «Merets Funken» (2012), «Das schwache Geschlecht. Neue Mannsbilder in der Kunst» (2013/14) und «Chinese Whispers» (2016).

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