Publiziert am 24. Dezember 2015 von Margret Keller-Budliger

Ricco Wassmer. Verschlüsselte Bilder als Botschaften

Im dem zur Ausstellung im Kunstmuseum Bern erschienenen Catalogue raisonné der Gemälde und Objekte von Ricco Wassmer ist eine Auswahl von Quellentexten abgedruckt. Drei ergänzende Essays jüngeren Datums zeigen, wie Ansätze aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln Wege zu neuen Fragestellungen ebnen. So nimmt die Psychologin und Eidetikerin Margret Keller-Budliger einen eigenständigen Standpunkt ein. Stellvertretend für die fast 60 zwischen 2012 und 2015 aus eigener Initiative ausgeführten Bildanalysen wird hier eines der drei publizierten Beispiele vorgestellt, in denen sie «Erlebtes und zumeist gleichzeitig schwierig zu Entzifferndes versuchsweise Gestalt werden lässt». Auf der Grundlage von Messungen und geometrischen Zeichnungen zur Klärung der Strukturen erkennt sie intuitive Anschauungsbilder. Dazu sagt sie: «In Ricco Wassmers Werken zeigt sich ein bewegtes Leben, das sich bis heute in einprägsamen Bildern auszudrücken wagt: Der Künstler zeichnet mit malender Hand das Schicksal eines Menschen inmitten seiner angestammten Familie, der ihn aufnehmenden Gesellschaft und seinen Freunden. Zu Letzterem gehört ein getreues Hündchen. Doch gewährt ein Bild auch auf der gleichen Hand liegende Einsichten?»

Ricco Wassmer, L’Archevèque, 1945, Privatbesitz, Schweiz. Copyright Ruedi A. Wassmer

Ricco Wassmer, L’Archevèque, 1945, Privatbesitz, Schweiz. Copyright Ruedi A. Wassmer

L’Archevèque, 1945. Patience-Spiel mit dem Erzbischof am Mardi Gras
Bereits zu Beginn der Beschreibung vom Bild L’Archevèque, 1945 (G 1945.01), fürchte ich um meine Glaubwürdigkeit. Behaupte ich doch, das eigentliche Bild müsse sich nur mit der Hälfte der ganzen Bildfläche begnügen, gemessen am Anteil, der dem uneigentlichen Bild zugewiesen worden ist. Ricco liebte Bilder im Bild einzufügen: In L’Archevèque sind es deren drei. Der schmutzig graue Rahmen, in Form eines Tors über dunklem Boden, dient als Zugang zur dargebotenen Geschichte. Um ein durchwegs in dunkler Farbe gehaltenes Porträt des Archevèque d. J. bewundern zu dürfen? Nebst einem lose ans Porträt anlehnenden Stück Papiers, einer Karte aus einem Patience-Spiel? Auf dem dunkel gefärbten Boden liegt ein mit Goldschnitt ausgestattetes blaugrünes Büchlein, das Brevier des Archevèque d. Ä.? Er, der seine rote Fastnachtsnase mit angeleimtem Schnauz in aller Eile vergessen hat, wollte doch in seiner Vorfreude den Zapfen der Champagnerflasche knallen und die Konfetti jetzt schon tanzen lassen! Inzwischen zeigt sich die Situation soweit beruhigt, nur das schwarze Gummibändchen buhlt derweil noch um sein Lieblingsspielzeug. In Madrid – zu lesen auf einer weissen Tafel in schwarzen Lettern – ist der letzte des drei Tage lang dauernden Mardi Gras angebrochen: Ausverkaufsstimmung der besonderen Art. Vom Archevèque d. J. ist nichts zu erfahren. Nur der Blick seiner wissenden Augen, die tief eingegrabene Mundfalte – seine fahle Haut unterstreicht sie –, dazu die dunklen Kleider, das sorgfältig genähte Pfaffenhütchen über rabenschwarzem Haar: Alles weist auf Exerzitien, Askese und Verzicht hin. Vom einstigen unschuldigen Kind kündet neckisch nur noch das Grübchen im Kinn.

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Der Korken, 3ter Tag Mardi-Gras, das Büchlein, die Fasnachtsnase und die schwarze Pik-Karte mit der Punktzahl 10 aus dem Patience-Spiel.

Aufklärende Hilfe – könnte sie nicht vom biblischen Berg, sondern per Schiff angeliefert werden, respektive von einer der 13 Stammkarten aus dem Patience-Spiel? Ricco hat die schwarze, nicht die rote Pik-Karte mit der Punktzahl 10 gewählt. Bei gutem Spielausgang winkt der Bube mit 11, die Dame mit 12 und der König mit 13 Punkten: Eine Aufstiegschance ist gegeben! Aus der möglichen Zahl an Spielen darf ausgewählt werden, 3 Fahnen im Schiff verkünden das Resultat. Gewählt sind Nr. 6 «Trotzkopf», Nr. 9 «Die kleine Harfe» und Nr. 12. «Napoleons-Patience». Auch aus dieser Sicht ist Fortschritt gewährleistet. Mit 3 Zahlen 6 – 9 – 12 frönt Ricco einer Lieblingsvorstellung, die er noch ein zweites Mal auszudrücken wünscht. Die roten Fähnchen flattern links und rechts vom blau-weiss Gewählten in der Mitte; bezüglich der Höhe sind das linke und mittlere einander ebenbürtig. Die Lösung für Reihenfolge, sowohl der gewählten Spielnummern als auch der Fähnchen, verlangt jetzt einiges an Patience! Vor allem aus der Sicht des Betrachters. Müsste das höhere der roten Fähnchen nicht – unserer Gewohnheit entsprechend – rechts vom mittleren zu stehen kommen? Aber sitzt dort am Boden nicht eine desolat wirkende Figur? Könnte die Zahlenreihe entsprechend in der umgekehrten Richtung mit 12 – 9 – 6 geschrieben werden? Im angefachten Streit von Rechts- und Linksgläubigen siegt zu jedermanns Verwunderung ausgerechnet das zart zirpende Harfenstimmchen! Wie gut ist es doch, vorsorglich immer die Mitte zu wählen! Dieses Fähnchen trotzt allen Stürmen! Nr. 6 «Trotzkopf» ist leider sitzen geblieben und hat jetzt Zeit zum Nachdenken.

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Stecknadel durch die rote Nase des Archevèques.

Wie hat er sich auch dieses Jahr wieder hergegeben, dem Älteren am richtigen Ort, zur richtigen Zeit als Aushängeschild zu dienen? Und wer lässt sich dazu schon gerne eine Stecknadel trotz reinweissem Porzellanköpfchen durch die rote Nase in die eigene Schmerzempfindliche rammen? Und zudem schnitzelbankträchtig … Wie werden andere mit Schadenfreude seine Hörigkeit ablesen können in seinem Gesicht. Wie wird er diese – zum Trotz! – ebenfalls seinem zukünftigen Adepten strikte abverlangen. Sobald auch er im Schutz des ehrbaren Schnauzes an die Reihe kommt: Ganz napoleonisch wird er diese Sache erledigen, jawohl!

Ausgerechtet am 25.2.2015, einen Tag nach Mardi Gras also, zwingt mich etwas zum Nachdenken: Und was war nun eigentlich mit den Punktezahlen los? Ich zähle sie nochmals auf: Ass zählt 1; 2–10 zählen nach ihrem Wert (schwarz); Bube zählt 11; Dame zählt 12 = Napoleons-Patience; König zählt 13. Und somit löst sich wie von selbst das Rätsel um die Reihenfolge der Zahlen, um Rechts- oder Linksgläubigkeit: Die Rechten haben doch immer recht: Sie heisst 6 – 9 – 12! Und der König ist der Schwarze Peter! Eine letzte Frage: Warum hat Ricco die schwarze Pik-Karte mit 10 Punkten als Bild im Bild gewählt?

Nachbemerkung: Nr. 10 meint in diesem Fall im Patience-Spiel «Berg» (Pik) die 10 Gebote Moses. In Nr. 10 ist nicht nach den 10 Geboten gehandelt oder gar geliebt worden. Bild im Bild: Fantasie, Traum, Wunsch, ganz nach Riccos Art.

Quelle: 40 Patiencen, Zusammengestellt von Frau Dr. Hanna Schmitz, Frankfurt a. M., o. J.

Mehr “verschlüsselte” Werke von Ricco Wassmer sind in der Ausstellung «Ricco Wassmer 1915-1972. Zum 100. Geburtstag» zu sehen. Sie ist noch bis am 13.03.2016 geöffnet.

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Autor

Margret Keller-Budliger

Margret Keller-Budliger (* 1929), Psychologin, studierte 1978–1986 an der Universität Bern als Gasthörerin Kunstgeschichte und Philosophie. Aus eigener Initiative hat sie zwischen 2012 und 2015 fast 60 Bildanalysen von Werken Ricco Wassmers gemacht.

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