Publiziert am 12. September 2014 von Kathleen Bühler

Reise durch die Nacht

Die Augen sind geschlossen. Auf den Ohren trage ich kabellose Kopfhörer und die ganze Aufmerksamkeit fokussiert sich auf die lockende Stimme, welche mich einlädt, in einen unbekannten Raum einzutreten: Nämlich den ursprünglich grössten Ausstellungsraum des Kunstmuseums, welcher in der Architektur „verschwunden“ ist und nun nur auf dieser Reise mit geschlossenen Augen oder Reise nach innen aufgefunden werden kann. Ich höre Wasserrauschen, Vogelgezwitscher und Schritte. Ein kleines Kind zupft mich am Kleid und fremde Hände führen mich durch unbekanntes Gelände. Während ich gebannt der jungen Stimme lausche und langsam dem Zug nach vorne folge, entstehen in meinem Kopf Bilder, male ich mir einen strahlenden Garten im Frühling aus, sehe ich im Geiste den unermesslich grossen, verwunschenen und leeren Ausstellungsraum, ertaste seine Wände und begebe mich schliesslich in den Raum innerhalb von Hodlers Gemälde „Die Nacht“.

symphonyofamissingroom

Dieses rätselhafte und zugleich faszinierende Gemälde ist Ausgangs- und Endpunkt meiner Reise, die ich mit einer kleinen Gruppe Neugieriger unternehme. Während dieser Reise nach innen, schärfen sich all meine Sinne, entsteht Vertrautheit mit den fremden, mich führenden Händen und nimmt mein Körper die vermeintlich wohlbekannten Räume auf ganz neue Weise wahr. Ich bücke mich, wenn ich glaube durch einen engen, verwinkelten Gang zu gehen, strecke meine Arme in die Höhe, wenn ich die Weite des Ausstellungsraumes erfassen möchte und lege mich am Schluss auf den Boden, um in Hodlers Gedankenwelt einzutauchen. Was die Wahrnehmungspsychologie schon längst weiss, erfahre ich nun am eigenen Körper: dass ich nämlich nicht nur mit den Augen sehe, sondern auch mit den Ohren, den Händen, den Füssen und meiner ganzen Haut. Es ist ein schönes Erlebnis: poetisch, überaus sinnlich und erfrischend.

Diesen besonderen Sammlungsrundgang «Symphony of a Missing Room» verdanken wir dem Londoner Künstlerpaar Martina Seitl und Christer Lundahl. Was sie 2009 als Auftragsarbeit für das Nationalmuseum in Stockholm entwickelt haben, wurde seither über zehn Mal für andere Ausstellungshäuser in ganz Europa adaptiert. Anlässlich der Biennale Bern gastieren sie nun auf Einladung des Schlachthaus Theater und des Kunstmuseum Bern hier in Bern. Es ist eine einmalige Gelegenheit seine eigene Sinneswelt sowie das „Musée imaginaire“ im eigenen Kopf zu erkunden, dabei die Werke aus der Sammlung des Kunstmuseum Bern als Begleiter mitzunehmen und sie danach für immer ganz anders in Erinnerung zu behalten.

Die geführte Museumstour «Symphony of a Missing Room» findet im Rahmen der Biennale Bern von 11. bis 19. September 2014 statt. Tickets sind über Starticket erhältlich.

Veröffentlicht unter Kunst aus 1. Hand

Autor

Kathleen Bühler

Kathleen Bühler, Kuratorin und seit 2008 Leiterin der Abteilung Gegenwartskunst am Kunstmuseum Bern. Sie kuratierte unter anderem die Ausstellungen «Merets Funken» (2012), «Das schwache Geschlecht. Neue Mannsbilder in der Kunst» (2013/14) und «Chinese Whispers» (2016).

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