Publiziert am 8. Mai 2014 von Kathleen Bühler

Poetische Anti-Fotografie

In unserem Ausstellungsraum im PROGR sind ab Donnerstag, 9. Mai (Vernissage) vier Fotografien von Marianne Mueller aus dem Jahr 1998 zu sehen. Dies erlaubt die Begegnung mit einer Künstlerin, welche in den Neunziger Jahren schlagartig für ihre intimen Betrachtungen bekannt wurde. Seit den Neunziger Jahren entstand daraus ein immenses Archiv von Alltagsbildern – Video oder Fotografie –, welche sie mit einem absichtslos umherschweifenden Blick einfing, und diese in wechselnden Ausstellungen oder für Buchprojekte stets neu arrangiert.

«Ich fotografiere bei mir zu Hause, auf dem Weg zur Arbeit, auf dem Sonntagsspaziergang, auf meinen Reisen ans Schwarze Meer oder durch die USA. Ich fotografiere mich selbst, das Kleid, das in der Badewanne zum Waschen liegt, den Himmel, Blumen, die Bushaltestelle auf dem Heimweg, Kühe, Berge. Ich fotografiere, wenn ich mich entweder verunsichert oder sicher fühle, wenn es sich um einen wichtigen Moment handelt, auch wenn ich einfach etwas sehr schön finde. Ich versuche auch dann zu fotografieren, wenn ich nicht daran denke. Meine Fotos erzählen von meinem Leben» (Marianne Mueller im Gespräch mit Patrick Frey, 1995).

Das Fotografieren ist bei Marianne Mueller ein intuitiver Vorgang, der erst in der Auswahl derjenigen Bilder, welche vergrössert und präsentiert werden sollen, an Präzision gewinnt. Diese Haltung erlaubt, die Fotografie von jeglicher Inszenierungsabsicht zu befreien und einer unprätentiösen Wahrheit des Alltäglichen auf die Spur zu kommen. Darüber hinaus geht es aber auch um eine konzeptuelle Haltung, welche mit dem Begriff der „Anti-Fotografie“ (Stefan Simchowitz) umschrieben wird: eine Fotografie des irrelevanten Moments und der banalen Situation, in der kein sichtbares Bemühen „richtig zu fotografieren“ erkennbar wird. In den vier Fotografien, welche die Stiftung Kunst heute 2003 für die Sammlung des Kunstmuseum Bern erwarb, zeigt sich das an den zufälligen und ungewohnten Ausschnitten, welche die Künstlerin erhaschte. Sie stammen wie Amateurfotografien aus dem täglichen Leben, jedoch steht keine Selbstdokumentation oder -inszenierung im Vordergrund, sondern eine besondere Art des Sehens, das sich langsam aus den Sujets herausschält. Der tastende Blick dokumentiert das Wahrgenommene und befreit es zugleich von herkömmlichen Bildklischees. Denn der Künstlerin geht es nicht um sie selbst, sondern um Wahrnehmung, um Präsenz, um die Aufhebung der klassischen Trennung von Subjekt und Objekt, um das Fragment und die Dimension der Grösse, um Berührung und den Einbezug des Betrachters, der die Bilder für sich selbst deuten muss.

Am Samstag, 10. Mai, 12h  führen wir im Rahmen von «Zeitfenster Gegenwart» durch die Ausstellung.

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Marianne Müller, Gesicht (Gegenlicht), 1997, Farbfotografie, 180,0 x 121,0 cm, Kunstmuseum Bern, Schenkung Stiftung Kunst Heute.

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Autor

Kathleen Bühler

Kathleen Bühler, Kuratorin und seit 2008 Leiterin der Abteilung Gegenwartskunst am Kunstmuseum Bern. Sie kuratierte unter anderem die Ausstellungen «Merets Funken» (2012), «Das schwache Geschlecht. Neue Mannsbilder in der Kunst» (2013/14) und «Chinese Whispers» (2016).

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