Publiziert am 28. August 2015 von Rainer Lawicki

Klee: der Kristall

Die Beschäftigung mit Kunstwerken von Paul Klee gleicht manchmal einer detektivischen Recherche, manchmal aber auch ist es wie eine Schnitzeljagd. Klee gibt in seinen Bildern Hinweise, die den Betrachter auf seinem Lese-Weg im Bild an die Hand nehmen. Es sind Pfeile, die eine Richtung weisen, oder Motive wie beispielsweise eine Tür oder ein Tor, die fast schön wörtlich genommen in das Innere des Bildes führen – bestenfalls ganz nahe an die Schöpfungswelt von Klee. Dabei ist es nicht ganz ungefährlich, sich dem Künstler zu nähern. Hintergründig warnte Georg Schmidt bereits 1935: „In Klees Garten wachsen viele sehr wenig harmlose Giftpflanzen! Ich glaube, wer alle Symbole Klees zu lesen verstünde, der würde unter der rein ästhetisch so ungemein genussvollen Oberfläche dieser Bilder das ganze Grauen unserer zerfallenen Zeit zutage treten sehen.“¹ So ist auch Klee und der Kristall ein Thema, das einen facettenhaften Reichtum besitzt. Wunderbar integriert und umgesetzt in der Ausstellung «Stein aus Licht. Kristallvisionen in der Kunst» im Kunstmuseum Bern.

Anfang 1915 ist in Klees Tagebuch zu lesen:
„Man verlässt die diesseitige Gegend und baut dafür hinüber in eine jenseitige, die ganz ja sein darf.
Abstraction.
Die kühle Romantik dieses Stils ohne Pathos ist unerhört.
Je schreckensvoller diese Welt (wie gerade heute) desto abstrakter die Kunst, während eine glückliche Welt eine diesseitige Kunst hervorbringt.

Heute ist der gestrige-heutige Übergang. In der grossen Formgrube liegen Trümmer, an denen man noch teilweise hängt. Sie liefern den Stoff zur Abstraction.
Ein Bruchfeld von unechten Elementen, zur Bildung unreiner Kristalle.
So ist es heute.
Aber dann: Einst blutete die Druse. Ich meinte zu sterben, Krieg und Tod. Kann ich den sterben, ich Kristall?
ich Kristall“²

Der letzte Ausruf in dem Zitat wurde von Klee als Papierschnitzel in das Tagebuch eingeklebt. Er stammt wahrscheinlich von früheren Aufzeichnungen, denn die heute überkommenen Tagebücher Klees wurden von dem Künstler nachträglich redigiert. Bei dem dritten Tagebuch  – aus dem das Zitat stammt – wird angenommen, dass die Reinschrift in den Jahren zwischen Ende 1918 und 1921 erfolgte.
Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges schloss Klee seine Tagebuchaufzeichnungen ab. Es war für den Künstler die Zeit der Ernte. Was vor und in dem Krieg künstlerisch in den Werken angelegt wurde, kam auch in der Öffentlichkeit zur Beachtung. Klee wurde als deutscher Avantgarde-Künstler wahrgenommen und sein Erfolg kulminierte in die Berufung an das Weimarer Bauhaus im Oktober 1920.

Paul Klee, Physiognomische Kristallisation, 1924, 15, Ölfarbe auf Nesseltuch, mit Aquarell und Feder eingefasst, auf Karton, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf

Paul Klee, Physiognomische Kristallisation, 1924, 15. Ölfarbe auf Nesseltuch, mit Aquarell und Feder eingefasst, auf Karton, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf

 

„ich Kristall“ – Damit sind nicht nur Andeutungen gegeben, welche an die programmatische Dissertation von Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung (1907) erinnert, die von den Wegbegleitern Klees, Franz Marc und Wassily Kandinsky, aufmerksam gelesen wurde, oder die besondere Betonung des Kristalls im dichterischen und kunstschriftstellerischen Werk von Theodor Däubler, mit dem Klee in Kontakt stand, viel mehr noch spricht sich darin eine Lebenshaltung von Klee aus. So wie die Druse den teilweise mit Kristallen angefüllten Hohlraum im Gestein bezeichnet, das verborgene anorganische Wachstum im Inneren eines abgeschlossenen Körpers, ebenso schöpfte und entwickelte Klee aus dem Inneren seine Bildwelt. Klee war verschlossen und mitteilend zugleich, behutsam abwägend in der Urteilsfindung und zugleich sprachlich mit einer Ironie begabt, die mehr sagt als das blosse Wort. Das Bild gibt bei Klee nicht vordergründig die wörtliche Bedeutung wieder, vielmehr ist es ein Zeichen und Tor zu einem anderen Denken. Er schöpfte aus dem künstlerischen Trümmerhaufen der Vergangenheit, selektierte und ordnete neu, wertete schliesslich die künstlerische Gestaltung anders: „Kunst verhält sich zur Schöpfung gleichnisartig.“³ Vergleichbar den Naturvorgängen werden die Kunstwerke gebildet, doch sie geben nicht die Natur wieder, sind nicht ihr Abbild. Der sukzessive Wachstumsprozess eines Bildes erfolgt analog wie in der Natur. Das visuelle Ergebnis jedoch bildet eine neue Welt, eine künstlerische Lebenswelt, deren Vokabular ebenso metaphorisch schillernd ist wie der Kristall, ebenso widersprüchlich wie mehrdeutig. Der Kristall gleicht Gegensätze aus: Die geometrische Grundorganisation vermag mitunter ein lebendiges, variationsreiches Lichtspiel hervorzuzaubern, im übertragenen Sinne Materie und Geist zu versöhnen.

Bei Klee pendelt sich die zertrümmerte Welt in einem diesseitig-jenseitigen Lebensraum ein: „Somit bin ich ‚abstract mit Erinnerungen‘”.⁴ Kristallklar.

 

¹ dt. [Georg Schmidt], Paul Klee. Ausstellung in der Berner Kunsthalle, in: National-Zeitung, 93. Jg., Nr. 134, 21. März 1935, S. 2.
² Paul Klee, Tagebücher 1898-1918, Stuttgart und Teufen 1988, Nr. 951, S. 365-366.
³ Paul Klee, Schriften, Rezensionen und Aufsätze, Köln 1976, S. 122.
⁴ Paul Klee, Tagebücher 1898-1918, Stuttgart und Teufen 1988, Nr. 952, S. 366.

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Autor

Rainer Lawicki

Rainer Lawicki hat Kunstgeschichte, Philosophie und Literaturwissenschaft in Deutschland und der Schweiz studiert und an der Universität Freiburg im Breisgau promoviert. Seit 2015 ist er Kurator und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Kunstmuseum Bern, nachdem er zuvor am Zentrum Paul Klee in Bern gearbeitet hat. Zahlreiche Publikationen zur klassischen Moderne und Gegenwartskunst, sowie Ausstellungen.

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