Publiziert am 19. September 2014 von Beat Stutzer

Im Zauber der Farbe – Augusto Giacometti

Augusto Giacometti hat zum «Phänomen Stampa» Entscheidendes beigetragen: Dass das unscheinbare Bauern- und Bergdorf, weder Hauptort des Tales noch mit einer eigenen Kirche gesegnet, dank hier aufgewachsener und tätiger Künstler zum klingenden Begriff in der Topographie moderner Kunst avancierte.

Im kargen Bergell, das nicht allen im Tal ein Auskommen sicherte, so dass viele als Zuckerbäcker in die Fremde ziehen mussten, bedurfte es besonderer Anstrengung und fürsprechlicher Hilfe, um den Wunsch, Künstler zu werden, durchzusetzen. Die als Cousins zweiten Grades entfernt verwandten Giovanni und Augusto Giacometti haben sich behauptet: Giovanni ging zur Ausbildung nach München, Augusto an die Kunstgewerbeschule in Zürich. Der neun Jahre ältere Giovanni kehrte nach seiner Studienzeit ins Bergell zurück, wo er dann zeitlebens wirkte, während Augusto eine andere Laufbahn einschlug: Nach wichtigen Jahren in Paris, arbeitete er bis zum Ersten Weltkrieg in Florenz, um sich dann in Zürich niederzulassen. Die generationsgleichen Künstler aus dem gleichen Dorf waren Konkurrenten und sich nicht gerade wohlgesinnt: Man habe sich gegenseitig knapp Guten Tag gesagt, wenn man sich zufällig im Bahnhofbuffet in Zürich begegnete!

Augusto Giacometti, der nie heiratete, hielt sich oft zu sommerlichen Malaufenthalten in seinem Elternhaus in Stampa auf. Einige Häuser talaufwärts wuchs bei Giovanni Giacometti eine einzigartige Künstlerfamilie heran: Mit Alberto, der als Bildhauer und Maler Weltruhm erlangen sollte, mit Diego, der seinem älteren Bruder zeitlebens als Assistent zur Hand ging und ein eigenes kunsthandwerkliches Werk hervorbrachte, mit Ottilia, und mit Bruno, dem nachmaligen Architekten.

Giacometti_Stampa

Augusto Giacometti, Stampa, 1915. Aquarell auf Papier, 27,8 x 37,1 cm © Bündner Kunstmuseum Chur © Erbengemeinschaft Nachlass Augusto Giacometti

Farbvisionen
Im Zentrum von Augusto Giacomettis Schaffen steht das Primat der Farbe – sie war stets sein eigentliches Gestaltungs- und Ausdrucksmittel. So erweist sich sein vielfältiges Gesamtschaffen von frappanter Folgerichtigkeit, auch wenn dies durch stilistische Wandlungen verschleiert wird. Giacometti war zunächst ein herausragender Künstler des Jugendstils und des Symbolismus, dann ein Pionier der abstrakten und ungegenständlichen Malerei und schliesslich ein bedeutender Wand- und Glasmaler, hat er doch die Kunst im öffentlichen Raum vor allem der Stadt Zürich während Jahrzehnten geprägt. Die scheinbare Wandlung des Künstlers vom Avantgardisten zu einem Vertreter der «art officiel» erwies sich indes rezeptionsgeschichtlich als problematisch.

Im Umfeld des Abstrakten Expressionismus «entdeckte» man Giacometti Ende der 1950er-Jahre als Vorläufer, während die Ausstellung von 2003 im Bündner Kunstmuseum Chur das Oeuvre des Künstlers konkret in den Zusammenhang der frühen Abstraktion stellte. Mit der Ausstellung im Kunstmuseum Bern wird Augusto Giacometti endlich auch ausserhalb seines Heimatkantons in einem grossen Schweizer Kunstmuseum umfassend gezeigt und gewürdigt.

 

Dieser Artikel erschien zuerst im KunstEINSICHTBern, dem gemeinsamen Magazin von Kunstmuseum Bern und Zentrum Paul Klee.

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Beat Stutzer

Geboren 1950 in Altdorf. Studium der Kunstgeschichte an der Universität Basel. Von 1982 bis 2011 Direktor am Bündner Kunstmuseum Chur; seit 1998 Konservator des Segantini Museums St. Moritz. Präsident der Eidgenössischen Gottfried Keller-Stiftung (2004–2008).

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