Publiziert am 25. März 2016 von Kai-Inga Dost

«Für Kinder und Jugendliche nicht geeignet». Grosse Kunst, Kunst für Grosse

Die Ausstellung «Chinese Whispers» hat es in sich. Bereits am Eingang des Ausstellungsteiles im Zentrum Paul Klee wird der Besucher darauf hingewiesen, dass einige Werke in der Ausstellung für Kinder und Jugendliche nicht geeignet seien. Der Hinweis bezieht sich vor allem auf drei Video-Arbeiten – die, zum Glück für den ungeeigneten Besucher, in geschlossenen Filmkabinetten gezeigt werden und so leicht zu umgehen sind, für die, die sich auch jenseits des genannten Schutzalters angesprochen fühlen.

Die Darstellungen in Iron Man und 123456 Chops von Wang Qingsong sind roh und brutal: Schläge hageln während vier Minuten auf den Kopf eines Mannes, bis dieser am Ende des Films blutüberströmt in ein erlösendes Gelächter ausbricht; ein Ziegenkadaver wird in einer theatralischen Inszenierung mit Hackbeilen nahezu pulverisiert.

Chen Chieh-Jen, Lingchi – Echoes of a Historical Photograph, 2002, 3-Kanal-Videoinstallation, Schwarz-Wei., 21:04 Min. / 3-channel video installation, black-andwhite, 21:04 min. M+ Sigg Collection, Hong Kong. By donation

Chen Chieh-Jen, Lingchi – Echoes of a Historical Photograph, 2002, 3-Kanal-Videoinstallation, Schwarz-Wei., 21:04 Min. / 3-channel video installation, black-andwhite, 21:04 min. M+ Sigg Collection, Hong Kong. By donation

Lingchi – Echoes of a Historical Photograph des in Taipeh lebenden Künstlers Chen Chieh-Jen kommt leiser daher. In seiner grausam schönen Arbeit bezieht sich der Künstler auf eine historische Fotografie einer im feudalen China praktizierten rituellen Hinrichtung, dem «Lingchi». Beim Lingchi, was übersetzt so viel heisst wie «Tod der tausend Messer» und nur bei besonders schwerwiegenden Vergehen zum Einsatz kam, tritt der Tod durch Verbluten ein, nachdem das mit Opium betäubte Opfer über Stunden verstümmelt wird. Die Tötungspraxis wird bereits seit 1905 nicht mehr angewandt, erlangte im Europa des 20. Jahrhunderts durch Fotografien, die französische Soldaten anfertigten und mit nach Europa brachten, aber dennoch traurige Berühmtheit. Kaum vorstellbar, aber sogar als Postkartenmotiv kursierten diese Bilder und prägten die Wahrnehmung der westlichen Welt vom fremden und barbarischen Osten. Noch in den 1960er Jahren veranlassten eben diese Darstellungen den französischen Schriftsteller und Philosophen Georges Bataille zu einer Abhandlung über Gewalt.

«Muss man das zeigen?» ist eine der unausweichlichen Reaktionen aus dem Publikum, ebenso wie die Frage: «Ist das Kunst?» – Ja und ja! Gute Kunst muss mehr sein als dekorativ und Harmonie heischend, sie muss alle Aspekte des Lebens reflektieren und behandelt dürfen, auch die Hässlichen, die Schrecklichen, die Traurigen. Dies tut Lingchi in einer unvergleichlich anmutigen und ästhetischen Art und Weise. Chen Chieh-Jen offenbart in der künstlerischen Rekonstruktion des erbarmungslosen Tötungsrituals eine tiefere gesellschaftliche Bedeutung. In kunstvollen und sehr ruhigen Schwarz-Weiss Bildern lässt der Künstler uns als Betrachter an dem Ritual teilhaben. Der Blick der Kamera wird gleich einer Passage zwischen Vergangenem und Gegenwart durch die Wunden des Gemarterten geführt und zeigt zum einen Bilder von Ruinen, die als Sinnbilder der destruktiven Kräfte im Menschen eine Analogie zum gefolterten Körper bilden: Der alte Sommer-Palast in Beijing, der von britischen und französischen Truppen im Kontext der zweiten Opium-Kriege geplündert und zerstört wurde; die Laboratorien der Japanischen Einheit 731, wo grausame Experimente an Menschen verübt wurden; das Gefängnis für politische Gefangene in Taiwan während der Zeit des Kalten Krieges sowie ein Fabrikgebäude, das von Umweltgiften kontaminiert und verseucht von einer amerikanischen Firma aufgegeben und verlassen wurde. Zum anderen lässt die Kamera den Blick über die umstehenden Schaulustigen schweifen. Die dreiteilige Projektion bezieht uns als Zuschauer unmittelbar in den Kreis der Umstehenden im Video ein und so blicken wir sinnbildlich auf uns selbst. Still erträgt das opiumbetäubte Opfer sein Leiden, stumm ist die gesamte Arbeit. Bis auf einen einzigen kurzen Ton im mittleren Teil des Films, der unangenehm laut und vibrierend den gesamten dargestellten Schmerz emblematisch symbolisiert.

Die poetische Arbeit Chen Chieh-Jens erfüllt alle Kriterien einer «guten» Tragödie. Das in der Aristotelischen Poetik geforderte «Jammern und Schaudern», eleos und phobos wird im Betrachter hervorgerufen. Es liegt im Willen des Betrachters, sich der kathartischen Läuterung der Seele durch den auf der Filmbühne erlebten Schrecken und das Mitleid zu öffnen, um zu einem besseren und ethischeren Menschen zu wachsen. Das vermag grosse Kunst.

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Kai-Inga Dost

Kai-Inga Dost studierte Kunstgeschichte und Ausstellungs- und Museumswesen an der Universität Bern. Seit 2014 ist sie am Zentrum Paul Klee und arbeitete für das Kooperationsprojekt «Chinese Whispers» als Ausstellungsassistenz.

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