Publiziert am 14. August 2015 von Marc-Joachim Wasmer

Finderlohn für Perlentaucher – Ricco Wassmer zum 100. Geburtstag

Fast wäre Ricco Wassmer (eigentlich Erich Hans Wassmer, 1915–1972) der Kunstgeschichte abhanden gekommen. Als Einzelgänger im Leben und im Beruf hatte er in der Kunsthalle Bern ein bescheidenes Forum gefunden und kam mit seiner Malerei nie über die lokalen Grenzen hinaus.

Ab 1937 nahm Ricco regelmässig an den Weihnachtsausstellungen teil, wo der künftige Direktor der Kunsthalle, Arnold Rüdlinger, die skurrilen Bilder Ende 1944 entdeckte und sie danach an drei Gruppenausstellungen zeigte. 1969 wurde der Maler auf Harald Szeemanns Initiative hin mit einer Retrospektive gewürdigt. Lediglich zwei Gemälde gelangten zu Lebzeiten des Künstlers in Museen, einige andere wurden im Rahmen der institutionellen Kunstförderung von Stadt und Kanton Bern sowie von der Bundeskunstsammlung angekauft. Vier wurden später wieder veräussert.

Noch heute befindet sich ein Grossteil der Werke im Besitz der weitverzweigten Familie und ist für die Öffentlichkeit nicht erreichbar. Dank eines Legats von Emanuel Martin 2003 und zweier Schenkungen befinden sich inzwischen 19 Gemälde und 27 Zeichnungen im Kunstmuseum Bern und im Aargauer Kunsthaus Aarau. Es war ein kleiner Kreis von Kennern, die sich von Riccos Traumwelten ansprechen liessen. Bis auf einige Ausnahmen hat sich auch die Fachwelt durch Nichtbeachtung von seinen Motiven hervorgetan. Die homoerotischen Inszenierungen schlanker, melancholisch blickender Jungen in Turnhosen, die akribisch gemalten Stillleben, allegorischen Figurenbilder, Jachten, exotischen Sujets und gemalten Objektmontagen wie auch die literarischen Inhalte standen damals quer zur Ästhetik der Avantgarde. Den Bildern, die in zurückhaltender und verschlüsselter Art die Sehnsucht nach einem Zustand androgyner, jugendlicher Vollkommenheit schildern und zugleich die im Unbewussten gehüteten Geheimnisse und Ängste rätselhaft andeuten, wurde kaum Verständnis entgegengebracht.

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Ricco Wassmer (eigentl. Erich Hans Wassmer), Morgenlandfahrt (Davos), 1934. Öl auf Leinwand, 28 x 38 cm, Standort unbekannt, © Ruedi A. Wassmer, Zürich

Inzwischen ist aber international ein wachsendes Interesse zu beobachten, nicht zuletzt, weil seit der Jahrtausendwende Bilder und Zeichnungen aus den Sammlungen der Erstbesitzer in den Kunsthandel gelangt sind. Massgebend für die Verbreitung von Ricco Wassmers Kunst sind gegenwärtig digitale, ins Internet gestellte Reproduktionen. Besonders beliebt ist sein reifes Schaffen. Was vor 1950 entstand, ist nahezu unbekannt, ebenso seine Fotografie und Grafik.

Anlässlich des 100. Geburtstags von Ricco Wassmer zeigt das Kunstmuseum Bern eine umfassende Retrospektive. Die über 200 Leihgaben, vor allem aus Privatbesitz, bieten einen breiten Überblick über das gesamte Schaffen. Viele Werke, darunter auch neu entdeckte, wurden noch nie öffentlich präsentiert. Weil die Kamera dem Maler nicht nur Ersatz für das Modellstudium bedeutete, sondern ab den 1950er-Jahren einen wachsenden Stellenwert einnahm, wird auch ein spezieller Fokus auf die Wechselwirkung von Malerei und Fotografie gerichtet. Hinzu kommen Gegenstände, die dem leidenschaftlichen Sammler als Bildvorlagen dienten.

Die chronologisch gegliederte Schau basiert auf der Forschung für den «Catalogue raisonné der Gemälde und Objekte». Zur Eröffnung erscheint der reich illustrierte Werkatalog mit Biografie und kritischem Werkverzeichnis, das später auch online abrufbar sein wird. Aufgrund detektivischer Recherchen konnten während des neunjährigen Projekts zu den bereits nachgewiesenen Gemälden weitere 210 neu ausfindig gemacht werden.

Es gibt immer noch manche Arbeiten, die nur schriftlich oder fotografisch überliefert sind. Darunter befinden sich Perlen, deren Wiederentdeckung hoffentlich nur eine Frage der Zeit ist. Besonders vermisst wird das kleine, in einem Verzeichnis mit «Morgenlandfahrt (Davos)» betitelte Werk von 1934, das einst in Berner Privatbesitz war. Zu sehen ist das in Hermann Hesses Erzählung «Morgenlandfahrt» (1932) beschriebene Fest der Freundschaft im «Zauberkreis» von Riccos Eltern Max und Tilly Wassmer-Zurlinden im Park des Schlosses Bremgarten. In einer längeren Passage wird die Bundesfeier am 1. August poetisch verklärt. In dem unfassbaren, nur in der Vorstellung existierenden Bund Gleichgesinnter, wo Fantasie und Wirklichkeit verschmelzen, suchte der 18-jährige Maler seine Heimat im Innern, die sich so entschieden von der Realität abhob. Es ist zwar der ungelenke Versuch eines Autodidakten, doch ist das daraus ablesbare Kunstverständnis wegweisend angelegt. Wer das Bild findet, darf mit der netten Belohnung in Form einer persönlichen Führung des Kurators durch die Ausstellung rechnen.

Die Ausstellung «Ricco Wassmer (1915-1972). Zum 100. Geburtstag» eröffnet am Donnerstag, 26. November.

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Autor

Marc-Joachim Wasmer

Von 2008 bis 2015 hat Marc-Joachim Wasmer am Kunstmuseum Bern den Catalogue raisonné von Ricco Wassmer erarbeitet. Das Buch erscheint zur Eröffnung der Retrospektive. Seit 1999 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich.

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