Publiziert am 12. November 2015 von Fred Zaugg

Ein traumatischer Weltentwurf

Anselm Kiefers «La Ribaute» und «La vie moderne» der 13. Biennale von Lyon

Alles begann so selbstverständlich und lustvoll. Auch ein kühn vor unserem Reisecar die Strasse querender junger Keiler konnte den Frieden des bunten Herbsttages nicht stören. Seine vier Schweinekumpel verschwanden respektvoll im Strassengraben. Und die «Jagdfreunde» unter den Kunstreisenden der BKG registrierten heiter die mögliche Beute ungefähr an der Grenze von Provence und Cevennen. Oder im vielgestaltig von Wind und Wasser geformten Karstgelände zwischen der Ardèche und der Cèze. Die Reisegruppe befand sich auf dem Weg von Avignon nach Barjac. Und darüber hinaus ins verbotene Land «La Ribaute», das Reich des deutschen Künstlers Anselm Kiefer, ehemals eine Seidenmanufaktur. Die schmale Strasse verengte sich zusehends, bis eine Eisenwand Halt gebot. Daneben untersagte eine Tafel das Betreten des umzäunten Gebiets.

Dass sich das Cortentor öffnete und unser Bus weiterfahren durfte, ist Martin Brauen zu verdanken. Er konnte der Bernischen Kunstgesellschaft die seltene Besuchserlaubnis vermitteln. Öffnete er uns damit ein Sesam nie gesehener Schätze? Sechs Stunden später würde vielleicht eine Antwort möglich sein, doch lange, sehr lange blieben die meisten von uns ganz einfach Staunende. Der Car mäanderte an schmalen, hellen Bauten mit einfachen Pultdächern vorbei auf einen Hügel. Durch die zur Strasse hin offene gläserne Frontwand sahen wir darin bereits erste Gebilde und Installationen, ahnten Kunst. Waren die Werke vollendet oder harrten sie in den ins Riesenhafte vergrösserten Schilderhäuschen auf des Meisters Hände, Teil eines kommenden Mächtigeren, eines grösseren Ganzen, sei es Rätsel oder Lösung?

Wie durch eine Katastrophe zerstörte Himmelspaläste überragen die windschiefen Beton-Türme Kiefer's Ateliergelände "La Ribaute".

Wie durch eine Katastrophe zerstörte Himmelspaläste überragen die windschiefen Beton-Türme Kiefer’s Ateliergelände “La Ribaute”.

Und dann wieder eine irgendwie christliche Inszenierung: Hat sich nun tatsächlich die kunsthungrige Reisegruppe aus Bern in einem leer geräumten Fabriksaal der Seidenmanufaktur mitten am Tag an langem Tisch zum «Abendmahl» gefunden. Das mag wohl etwas gar weit her geholt sein, war es doch bloss eine Halbzeitpause mit köstlichem Lunchpaket. Aber das Bild war erdenschön, ein «Gemälde». Hinter uns stand allerdings ein Grossformat von Anselm Kiefer mit ihm persönlich in Vaters Uniform und mit Hitlergruss. Eine böse Spiegelung der Vergangenheit. In ihre Trümmerstädte wurde Anselm Kiefer 1945 geboren. Seine Traumata wurden zu Stationen unserer zweiten Etappe.

 In solch einer Umgebung lässt es sich gut tafeln.

Auf «La Ribaute» liess er in immensen Treibhäusern die Ruinen nochmals erwachen. Die Trümmer brachen durch Betonfundamente, wuchsen in Glasräume, trugen Kanonenboote, Flugzeugträger und ganze Kampfflugzeuge an die Oberfläche, ins Licht und damit in die Erinnerung und in die Gegenwart. Man dachte an Joseph Beuys, der nach Horst Antes ein Lehrer Kiefers war. Dieser schrieb auch andere Namen an die Wände und in unsere Köpfe: Paul Celan, Ingeborg Bachmann, Sappho, Agrippina, Xantippa, Rabbi Loeb, Tannhäuser, ein paar Beispiele, die für die Verknüpfung von Kulturen und Zeiten und für die stete geistige Bewegung des Künstlers stehen. Nach den Treibhäusern führten die Wege in die Tiefe, in ein treppenartiges Labyrinth, in ein unterirdisches Theben mit Säulenalleen, in einen mit Bienenwachs geglätteten Grabgang mit spitzwinkligem Querschnitt, realisiert von Freund Wolfgang Laib. Ferner ein Lazarettsaal mit nassen Bleilinnen. Wurden wir in der Tiefe Gegenstand einer Archäologie ausserhalb der Zeit. Als passendes Positiv an der Oberfläche erschienen die Türme der neun Himmelspaläste, über zwanzig Meter hoch, windschief und nach oben offen, aber fest fundiert im Wissen von Jahrtausenden.

Gigantische Schlachtschiffe lassen den faszinierten Betrachter klein und verwundbar erscheinen.

Gigantische Schlachtschiffe lassen den faszinierten Betrachter klein und verwundbar erscheinen.

Die Türme begleiteten uns noch lange. Fassten sie alles zusammen? Oder war es Hybris, was wir als eines unserer grössten und berührendsten Kunsterlebnisse bezeichneten? War es vielleicht das Stahl, Beton und Blei gewordene unendliche Suchen des Menschen? Kiefers Kreuzweg? Das Sinnieren beendete unser Fahrer mit einer Ehrenrunde um Avignons Altstadt und zum «Pont». Im Startort Lyon tafelten wir in der Brasserie Georges, die ist zwar nicht auf Weisheit gebaut, hat aber seit je die Künstler aller Sparten verpflegt: Rodin, Saint-Exupéry, Zola, Verlaine, Utrillo, les Lumières, Edith Piaf…

Biennale Lyon: Gruppenbild mit Schlagzeug - Misstöne gab es keine.

Biennale Lyon: Gruppenbild mit Schlagzeug – Misstöne gab es keine.

Anselm Kiefer war das Bild, die Biennale von Lyon der Rahmen der BKG-Reise. Matthias Frehner führte uns durch die beiden weitläufigen und vielgestaltigen Teile der Ausstellung. Dankbar nahmen wir seine zurückhaltende Interpretation an und die offenen persönlichen Deutungen. Vor dem Chaos einer Atelierdarstellung, die bei genauem Hinschauen in makellose Trompe l’oeil–Elemente mündete, erklärte Matthias Frehner, hier würde das Chaotische mit Konstruktivem und Analytischem konfrontiert. Die beiden extremen Richtungen prägten eigentlich die ganze Biennale und weitgehend auch die Gegenwartskunst und dies in den verschiedensten Techniken und Gestaltungen.

Für die reiche Kunstreise in Frankreich bleibt herzlich zu danken, ganz zuerst den Leitern Holger Hoffmann und Marco Ryter und ihren Frauen, dann Hella Pohl, Arne Ehmann und Matthias Frehner und nicht zuletzt Martin Brauen.

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Autor

Fred Zaugg

Fred Zaugg, geboren 1937 in Bern, wandte sich nach zehnjähriger Lehrtätigkeit dem Journalismus zu, war bis 2002 Kulturredaktor für Film und bildende Kunst («Bund») und ist seither freier Publizist. Autor der zwei Bände «Lokaltermin Atelier» zum AC-Stipendium.

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