Publiziert am 17. September 2015 von Simon Oberholzer

Die Rolle seines Lebens. Toulouse-Lautrecs Selbstinszenierung als unkonventioneller Aussenseiter

Was haben Toulouse-Lautrec und Tracey Emin miteinander gemein? Beide trinken gerne, beide haben es viel mit Bettaktivitäten zu tun, beide lieben Partys und von beiden gibt es Nacktphotos. Beide leiden unter Bewusstseinsstörungen und Panikattacken, beides sind weltbekannte Künstler und beide stehen exemplarisch für die Künstlergeneration ihrer Zeit. Aber die zwei sind vor allem eines: begnadete Selbstinszenierer. Beide spielen in medienwirksamer Perfektion die Künstlerrolle des unkonventionellen Aussenseiters mit Hang zur Selbstzerstörung. Diese Figur hat ihre Aktualität, aber auch ihre Geschichte, Funktionsweise und Bildsprache.

Die Kunsthistoriker sagen sofort: Ein Stereotyp, und zählen flugs die ärgerlichen jungen „peintres maudits“ der Romantik auf, danach Gustave Courbet mit seinen wütigen Selbstporträts der 1840er und 1850er Jahre. Der südseereisende Bohemien Paul Gauguin und der zwangsinternierte Patient Vincent van Gogh dürfen hier als antibürgerliche Paradebeispiele auch nicht fehlen. Und damit wären wir zeitlich und geographisch bei unserem Toulouse-Lautrec angelangt (apropos: Van Gogh studierte zu Beginn der 1880er Jahre wie Lautrec bei Fernand Cormon in Paris und übernahm von seinem Kommilitonen 1888 die schöne Geliebte Suzanne Valadon). Alle diese Künstler haben die Selbstzerstörung zur selbstverordneten Krankheit, den Kult des Sonderlings zur künstlerischen Marke, die Gefährdung zum Labeling ihrer Künstlerexistenz erkoren.

François Gauzi, Lautrec (oben rechts) mit Albert Grenier und einem anderen Kollegen in Frauenkleider, um 1887, Originalabzug, 12,2 x 16,3 cm, Privatsammlung.

Wie lautet Lautrecs Skriptum zu dieser Künstlerrolle? Gewiss: Toulouse-Lautrec hat nicht freiwillig das Wachstum seiner Beine zum Stillstand gebracht und sich so bereits 1879 als 15-Jähriger zum augenscheinlichen Sonderling gemacht. Aber er hat sehr wohl begriffen, was es heisst, ein Belächelter oder Leidender zu sein, und wie er aus dieser Not eine Tugend machen konnte. Zu Beginn der 1880er Jahre begann er, aus seiner Aussenseiterposition Profit zu schlagen, indem er seine körperlichen Abnormalitäten in brutalster Weise instrumentalisierte und inszenierte. Er begann, fernab von den Schlössern seiner Familie und dem kraftstrotzenden Vater seine Identität selber zu gestalten. Dafür inszenierte er sich mit Freunden oder alleine auf ungeheuerlichen Photographien als Muezzin, Samurai, Chanteuse, Clown, Japaner und vieles mehr. Gross scheint sein Spass daran gewesen zu sein, jeglichen Anstand und alle gesellschaftliche Haltung zu torpedieren. Hierfür nur ein weiteres Beispiel: Auf einer Photographie sehen wir ihn lachend bei der Toilette im Freien, seine Fäkalien zeichnen sich dunkel auf dem hellen Grund ab.

Maurice Joyant, Toulouse-Lautrec bei der Toilette, Photographien, um 1898.

Gleiches gilt für seine Kunst: Er erhob die Dekadenz und Perversion des Unterhaltungsviertels Montmartre zu seinen Schlüsselmotiven. Diese Parallelwelt zur gutbürgerlichen Gesellschaft wurde sein Territorium, das er bald als Künstler beherrschte und für Streifzüge in die menschlichen Abgründe nutzte. Ohne Geldsorgen gönnte er sich jede künstlerische Frechheit: Auf seiner gemalten Parodie auf das Gemälde „Bois sacré“ von Puvis de Chavannes sehen wir ihn selbst dargestellt als Zwerg von hinten, wie er im Kreise seiner betrunkenen Kollegen auf den Boden, den heiligen Hain, uriniert. In seinen vielen Selbstdarstellungen ist er meist karikiert dargestellt, oftmals nackt, meist geradezu grotesk. Die Perspektiven auf seine Motive sind die eines Verrückten, seine Maltechnik die des Ungeduldigen. Frech sind seine entblössenden Porträts, nie idealisiernd, immer das Sonderbare des Dargestellten hervorhebend. Schönheiten werden zu Fratzen, ausgekostet wird das Hässliche, dargestellt das Verbotene. Jede Bildkonvention wird über den Haufen geworfen.

Henri de Toulouse-Lautrec, Parodie du Bois sacré de Puvis de Chavannes, Öl auf Leinwand, 1884, 172 x 380 cm, The Henry and Rose Pearlman Foundation.

Selbstinszenierung als Selbstzerstörung – nicht nur in seinen Selbstporträts, auch in seinem Leben. Lautrec trank, und er trank zu viel. Er hatte Syphilis, und wir wissen warum. Bewusstseinsstörungen und Schlaganfälle machten aus ihm in Realität eine Karikatur seiner selbst. Bald angewiesen auf Hilfe bei jeglicher Bewegung, zurückgeholt von der Familie auf das Schloss Malromé, totgepflegt von der Mutter wie ein kleines Kind. Ein Komet, der verglüht: Der letzte Spross einer jahrtausendealten Familie, welche die Politik im Südwesten Frankreichs prägte und über immense Ländereien herrschte, wurde komischerweise der Berühmteste all dieser Berühmtheiten. Er hat infolge seiner Künstlerrolle, in der er Leben und Werk vereinte, nicht eben lange gelebt. Nämlich genau 37 Jahre. Diese genügten, um ihn unsterblich zu machen.

Absinthe der Marke Toulouse-Lautrec, 2015.

Ein Mythos war geboren, dessen Vermarktung noch heute grenzenlos zu sein scheint. In Hollywoodfilmen und Comics, auf Absinthflaschen, Handy-Etuis, Aschenbechern, Kühlschrankmagneten, Kochschürzen und vielem mehr lebt Toulouse-Lautrec wohl in alle Ewigkeit weiter. Und sicher auch in denjenigen Künstlern von heute und morgen, welche die Künstlerrolle des unkonventionellen Aussenseiters mit Hang zur Selbstzerstörung nachspielen. Tracey Emin ist hierfür nur eines von vielen Beispielen.

Veröffentlicht unter Allgemein, Experten am Werk
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Autor

Simon Oberholzer

Simon Oberholzer ist promovierter Kunsthistoriker. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kunstmuseum Bern. Zuvor arbeitete er in der Galerie Kornfeld (2013-2015) und an der Universität Bern (2010-2013).

Kommentare

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1 Kommentar

Urs Fehlmann
Donnerstag, 17. September 2015, 16:35

Mann ohne Po.