Publiziert am 20. Mai 2020 von Deborah Müller

ALLES ZERFÄLLT: WERKE IM FOKUS #9 – ARNOLD BÖCKLIN, MEERESSTILLE

Ferdinand Hodlers Gemälde «Aufstieg» und «Absturz» sind Schlüsselwerke der Ausstellung Alles zerfällt. Schweizer Kunst von Böcklin bis Vallotton und halten den Moment grösstmöglicher Spannung zwischen dem narzisstischen Selbstbewusstsein des Menschen und seiner extremen Verletzlichkeit fest. Hodler schuf diese Meisterwerke 1894, während Sigmund Freud – eine weitere, im Kontext dieser Ausstellung wichtige Figur – im Jahr 1917 über die drei grossen Kränkungen des Menschen schrieb. Der Dialog zwischen den präsentierten Kunstwerken und Freuds Theorie ist zentrales Element des Ausstellungskonzepts. 

Mit den Beiträgen von Studierenden der Universität Bern und von jungen Kunsthistoriker*innen soll die Diskussion über die Themen und Thesen der Ausstellung angefacht und weiterentwickelt werden. Die Schreibenden erläutern die Kunstwerke, befragen sie aber auch und schlagen neue Lesarten vor. Dabei wird deutlich, dass die Sammlung des Kunstmuseums Bern keine statische Masse ist, sondern ein gewaltiger und dynamischer Speicher, dessen Erforschung verborgene Geschichten und neue, mit den sich verändernden Umständen einhergehende Deutungsmöglichkeiten offenbart.

Böcklin_Meeresstille

Arnold Böcklin, Meeresstille, 1886/87, Tempera und Firnisfarbe auf Holz, 103 x 150 cm. Kunstmuseum Bern

 

Arnold Böcklin, Meeresstille, 1886/87
Auf einem felsigen Podest nur knapp über der Wasseroberfläche lässt Böcklin eine mystische Gestalt thronen. Sofort fallen ihre mit Kohle umrandeten Augen auf, die geheimnisvoll in die Ferne schweifen. Ihre kupferrote, über die Hüfte reichende Mähne ist ein weiterer Blickfang, der unsere Aufmerksamkeit vom barbusigen Oberkörper abzieht und auf den changierenden, fischähnlichen Unterleib lenkt. Unscheinbar, jedoch direkt unter ihr, schwimmt ein zweiter Hybrid, dessen komplexe Natur mit kräftiger Brust, wurmartiger Lende und amphibischem Stachelschwanz nicht weniger Rätsel aufgibt.

Mit seinem Gemälde Meeresstille aus dem Jahr 1886/87 knüpft Arnold Böcklin (1827–1901) an seine in den 1870er Jahren begonnene Bildtradition von maritimen, mit Hybridwesen ausgestatteten Szenen an und modifiziert sie auf subtile Weise. Anders als in seinen früheren Fassungen des Motivs von Triton und Nereide schlägt der Meister des Symbolismus hier zwei für das Figurenpaar unkonventionelle Wassergeistertypen vor: Triton, der Sohn des Poseidon, der dank seinem Tritonshorn die Fähigkeit besitzt, das Meer nach Belieben aufrühren und bändigen zu können, scheint hier selbst gebändigt zu sein. Böcklin stellt ihn als attributloses, fast ohnmächtiges Mischwesen unter Wasser vor, das durch ein von der Bildkomposition impliziertes Kontrastverhältnis sanftmütiger als sein Pendant an Land wirkt. Selbst die männlich konnotierte, übermässige Körperbehaarung vorangegangener Triton-Versionen ging hier verlustig. In vergleichbarer Weise hat Böcklin die Figur der Nereide adaptiert. Sie verkörpert hier kaum eine von Nereus’ ansehnlichen und mit den lieblichen Eigenschaften des Meeres ausgestatteten Töchtern, sondern vielmehr eine Femme fatale. Ihre schwarz geschminkten Augen ziehen Blicke auf sich und wenden sie ab; ihr Erscheinung wirkt attraktiv und unheimlich zugleich.[1]

Die Wasserfrauenthematik vermochte im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht allein Böcklin zu begeistern, sondern ebenso dessen prominenten Verehrer und Kritiker, Theodor Fontane. In seinem 1898 veröffentlichten Roman Der Stechlin porträtiert Fontane die von ihrem bürgerlichen Milieu als ambivalent beschriebene Melusine von Barby in enger Verwandtschaft zur Böcklin’schen Nereide als libidinös anziehend und bedrohlich selbstbewusst.[2] Damit geraten die Kategorien ‘weiblich’ und ‘männlich’, die sowohl bei Böcklin als auch bei Fontane in körperlichen Codes greifbar werden, ins Wanken. Die Dezentrierung des modernen (männlich kodierten) Subjekts, die Sigmund Freud im Jahr 1917 anhand von «narzisstischen Kränkungen» zu fassen versuchte und die dem Kuratorenteam von «Alles zerfällt» als konzeptueller Ausgangspunkt diente, ist mithin untrennbar mit einer umfassenden Auflösung und Neuverhandlung der etablierten zweigeteilten, bürgerlichen Geschlechterordnung verknüpft.[3] Böcklins hier vorliegende Interpretation der Nereide – respektive der Melusine – als gespaltene Femme fatale kann als eine frühe, mögliche Antwort auf diese erschütternde Krise verstanden werden, die schliesslich bis heute andauert.

Arnold Böcklin
Geboren 1827 in Basel, gestorben 1901 in Fiesole. Von 1845 bis 1847 besuchte er die Klasse von Johann Wilhelm Schirmer an der Düsseldorfer Kunstakademie und begab sich anschliessend auf Studienreisen nach Deutschland, Belgien, in die Niederlande und nach Paris. Böcklin gehörte zum Kreis der Deutsch-Römer und lebte zwischen 1850 und 1871 abwechselnd in Rom und Basel, danach für kurze Zeit in München, bevor er sich 1874 in Florenz niederliess, wohin er – nach sieben Jahren in Zürich – 1893 wieder zurückkehrte.

 

[1] Zur «Seelenlosigkeit» der dargestellten Nereide: Floerke, Gustav, Zehn Jahre mit Böcklin, München 1901, S. 14.
[2] Für eine erhellende Analyse der Wasserfrauenthematik aus gendertheoretischer Perspektive: Penelope Paparunas, «Wasserfrau als Maskerade? Melusine von Barby und die Hybridisierung von Geschlechterkonfigurationen in Theodor Fontanes ‹Stechlin›», in: Spinnenfuss und Krötenbauch. Genese und Symbolik von Kompositwesen, hrsg. von Paul Michel, Zürich 2013, 369–404.
[3] Zur Herausbildung von dichotomen «Geschlechtscharakteren» seit dem Humanismus: Hausen, Karin, Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2012.

Veröffentlicht unter Allgemein, Blick hinter die Kulissen
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Autor

Deborah Müller

Deborah Müller studierte Kunstgeschichte und Philosophie in Basel, Paris, Bern, Zürich und Freiburg i.Br. Seit 2017 wirkt sie an verschiedenen Ausstellungsprojekten mit (u.a. Rita McBride im Wiels Centre d’art contemporain in Brüssel und Plattform19 im Centre d’art contemporain in Yverdon-les-Bains).

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