Publiziert am 13. Mai 2020 von Patricia Simon

ALLES ZERFÄLLT: WERKE IM FOKUS #8 – CLARA VON RAPPARD, DIE JUNGFRAU IM NEBEL

Ferdinand Hodlers Gemälde «Aufstieg» und «Absturz» sind Schlüsselwerke der Ausstellung Alles zerfällt. Schweizer Kunst von Böcklin bis Vallotton und halten den Moment grösstmöglicher Spannung zwischen dem narzisstischen Selbstbewusstsein des Menschen und seiner extremen Verletzlichkeit fest. Hodler schuf diese Meisterwerke 1894, während Sigmund Freud – eine weitere, im Kontext dieser Ausstellung wichtige Figur – im Jahr 1917 über die drei grossen Kränkungen des Menschen schrieb. Der Dialog zwischen den präsentierten Kunstwerken und Freuds Theorie ist zentrales Element des Ausstellungskonzepts.

 

Mit den Beiträgen von Studierenden der Universität Bern und von jungen Kunsthistoriker*innen soll die Diskussion über die Themen und Thesen der Ausstellung angefacht und weiterentwickelt werden. Die Schreibenden erläutern die Kunstwerke, befragen sie aber auch und schlagen neue Lesarten vor. Dabei wird deutlich, dass die Sammlung des Kunstmuseums Bern keine statische Masse ist, sondern ein gewaltiger und dynamischer Speicher, dessen Erforschung verborgene Geschichten und neue, mit den sich verändernden Umständen einhergehende Deutungsmöglichkeiten offenbart.

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Clara von Rappard, Die Jungfrau im Nebel, um 1888, Öl auf Leinwand, 47,1 x 60 cm, Kunstmuseum Bern

 

Clara von Rappard Die Jungfrau im Nebel, um 1888

Von feinem, fast durchscheinendem Nebel umgeben, erhebt sich das imposante Bergmassiv in den Himmel. Die weissen, schneebedeckten Spitzen heben sich von der grauen, steinigen Tektonik ab, welche den gesamten Vordergrund des Bildes einnimmt. Es finden sich keine Menschen, keine Tiere, keine zivilisatorischen Eingriffe oder ähnliche Staffagen im Bild, die in der Regel als kompositorische Elemente zur Konstruktion von Monumentalität verwendet werden. Das Bild wirkt weder bühnenbildartig noch gestellt oder gar inszeniert, und obwohl der Ort von Menschen verlassen ist, erscheint er nicht trostlos. Allein der dargestellte Berg ist das Bildmotiv, der sich nicht nur des Werktitels wegen, sondern auch aufgrund seiner zweispitzigen Form identifizieren lässt: Es ist die Jungfrau.

 

Gemalt hat das Bild Clara von Rappard (1857 -1912), die in Interlaken in einer Villa mit Parkanlage und Aussicht auf das Alpenpanorama des Berner Oberlandes aufgewachsen ist. Die Inspiration für die Darstellung dieser harmonischen Komposition entnimmt die Künstlerin folglich ihrer alltäglichen Umgebung. Die Alpen, insbesondere das Sujet der Jungfrau, sind wiederkehrend im Œuvre der Künstlerin. Zum Entstehungszeitpunkt ist die Berglandschaft bereits ein etabliertes Sujet in der Schweizer Kunstwelt. Doch während zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch Wert auf topografische Genauigkeit und heroische Romantisierung gelegt wurde, verlagert sich der Fokus nun zunehmend auf das Verhältnis zwischen dem inneren Gemüt der malenden Person und der Landschaft: Die dargestellte Natur soll zum Spiegel des Innenlebens, der Seele, werden. In dieser Hinsicht ist die von der Bergwelt ausgehende Gefahr ein dominierendes Motiv, welches auf die Angst und die omnipräsente Ehrfurcht vor der Monumentalität der Gebirgswelt zurückzuführen ist. Nicht so das Werk Clara von Rappards: Die Jungfrau im Nebel ist von diesen Berglandschaften zu differenzieren.

 

Während beispielsweise Alexandre Calame in seinen Gemälden die Grösse der Alpen und die Bedrohung der Naturgewalt für die Menschen hervorhebt, hält Clara von Rappard ein sich stets wandelndes Bild der Alpen fest, wie die Kunsthistorikerin Carola Muysers betont: «Die Malerin dagegen erschloss das immaterielle, vergängliche Erscheinungbild der Berge in einem Gebilde aus Nebel- und Wolkenfetzen, einem Mosaik aus Licht und Schatten.»[1] Das Gemälde veranschaulicht dieses Dokumentieren eines kurzen Augenblickes und zeugt zugleich von der Bewunderung des Berner Alpenpanoramas durch Rappard. Sie zeigt die Jungfrau als erhabene, über ihr thronende Natur, jedoch nicht als erdrückende Bedrohung. Ein Paradox an der Darstellung der Jungfrau durch Rappard spiegelt sich im zeitgenössischen Kontext der Malerin. Als Frau war es ihr zu jener Zeit nicht möglich, alleine in der Öffentlichkeit zu malen. Ihr war es gegönnt, auf eine Parkanlage mit Aussicht auf das Gebirge ausweichen zu können. Clara von Rappard befreit sich folglich nicht nur von der landschaftlichen Darstellungsnorm ihrer Zeit, sondern auch von den gesellschaftlichen Zwängen, die sie im Ausüben ihrer Profession eingrenzen.

 

 

Clara von Rappard. Geboren 1857 in Wabern bei Bern, gestorben 1912 in Bern.

Aufgewachsen in Interlaken, wo ihr Vater Hotelinhaber ist und eine Villa besitzt. Früh wurde die Künstlerin gefördert. Die Familie reist durch Europa und Rappard erhält von diversen Künstlern Unterricht. Von 1875-1885 besucht sie die Damenklasse von Karl Gussow an der Kunstakademie in Berlin. 1887 trifft sie Arnold Böcklin, dessen Kontakt prägend auf sie wirkt. Clara von Rappard betätigt sich in der Landschafts- und Porträtmalerei, fertigt allegorische Gemälde, Zeichnungen, Wandmalereien, Drucke und Illustrationen an. Zu Lebzeiten stellt sie in Europa und den USA aus; 1896 findet im Kunstmuseum Bern eine Einzelausstellung statt. Von Zeitgenossen wurde sie zu den bedeutendsten Malerinnen der Schweiz gezählt.

 

[1] Muysers, Carola, „Werk und Leben der Freilichtmalerin Clara von Rappard 1857-1912“, in: Clara von Rappard. Freilichtmalerin 18571912, Kat. Ausst., Museum Schloss Jegenstorf, Kunstmuseum Pilsen, Bern: Gesellschaft Clara von Rappard, 1999, 7-45, hier S. 23.

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Autor

Patricia Simon

studierte Kunstgeschichte und Sozialanthropologie an der Universität Bern und ist Doktorandin am Institut für Kunstgeschichte. Masterarbeit zur Darstellung der exotisierten Schweiz anhand des Gemäldes "La fête des bergers suisses à Unspunnen, le 17 août 1808" von Élisabeth Vigée Le Brun.

Kommentare

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2 Kommentare

Clara Von Rappard - Talent Im Goldenen Käfig Um 1900
Freitag, 19. März 2021, 20:40

[…] ihr angetan (wie Millionen Touristen bis heute). Mit ihrer Technik – beispielsweise im Gemälde “Jungfrau im Nebel” von 1888 sichtbar (s. u.) – hob sie sich deutlich von der Malerei ihrer Zeit […]

ALLES ZERFÄLLT: WERKE IM FOKUS #16 – ANNA ELISABETHA VON ERLACH, AUF DER GARTENBANK | Kunstmuseum Bern Blog
Mittwoch, 12. August 2020, 16:53

[…] Malerinnen gegen Ende des 19. Jahrhunderts tätig waren, etwa Clara von Rappard (1857–1912, vgl. Die Jungfrau im Nebel), Louise Breslau (1856–1927, vgl. Der Fünfuhrtee, 1883) und Ottilie von Roederstein […]