Publiziert am 1. Mai 2020 von Olivia Baeriswyl

ALLES ZERFÄLLT: WERKE IM FOKUS #6 – KARL STAUFFER-BERN, SCHLAFENDE JUNGE FRAU

Ferdinand Hodlers Gemälde Aufstieg und Absturz sind Schlüsselwerke der Ausstellung Alles zerfällt. Schweizer Kunst von Böcklin bis Vallotton und halten den Moment grösstmöglicher Spannung zwischen dem narzisstischen Selbstbewusstsein des Menschen und seiner extremen Verletzlichkeit fest. Hodler schuf diese Meisterwerke 1894, während Sigmund Freud – eine weitere, im Kontext dieser Ausstellung wichtige Figur – im Jahr 1917 über die drei grossen Kränkungen des Menschen schrieb. Der Dialog zwischen den präsentierten Kunstwerken und Freuds Theorie ist zentrales Element des Ausstellungskonzepts. Angesichts der Corona-Krise zeigt sich nun, dass die im Kontext der Ausstellung aufgeworfenen Fragen plötzlich sehr aktuell sind. Das neue Virus scheint so unbekannt, trügerisch, allgegenwärtig und heftig zu sein, dass es den Stolz der Menschen des 21. Jahrhunderts untergräbt und unsere Vorstellung, alles im Griff zu haben und zu beherrschen, als Illusion entlarvt. Die Krise beweist, wie falsch wir lagen. «Alles zerfällt» ist zwar die Ausstellung einer historischen Sammlung, sie wird nun aber auf seltsame Weise zu einem Spiegel und einem lebendigen Kommentar zu der uns umgebenden Realität. 

Karl Stauffer-Bern, Schlafende junge Frau von hinten und en face, 1883 A 1991.197 Bleistift, 32,5 x 52,2 cm, Depositum der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Bundesamt für Kultur, Gottfried Keller-Stiftung

Karl Stauffer-Bern, Schlafende junge Frau von hinten und en face, 1883
A 1991.197, Bleistift, 32,5 x 52,2 cm, Depositum der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Bundesamt für Kultur, Gottfried Keller-Stiftung

 

Karl Stauffer-Bern, Schlafende junge Frau von hinten und en face, 1883

Das Eigentümliche an der Zeichnung Schlafende junge Frau von hinten und en face (1883) von Karl Stauffer-Bern (1857 – 1891) liegt in der doppelten Präsenz des Modells. Unter dem Rückenakt hat der Künstler eine Vorderansicht eingefügt, nun mit skizzenhaft angedeutetem Nachthemd. Der Kopf ruht mit geschlossenen Augen auf dem rechten Arm, der Mund ist leicht geöffnet: eine Schläferin.

Die Figur der Doppelung spiegelt prominente Polaritäten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Innen und Aussen, Körper und Geist, Bewusstes und Unbewusstes – das Individuum wird nicht nur in der wissenschaftlichen Vermessung von Körper und Psyche dualistisch gedacht, sondern empfindet sich selbst zunehmend als gespalten und ohnmächtig angesichts ökonomischer und gesellschaftlicher Entwicklungen, die sich seiner Kontrolle zu entziehen scheinen. Erforscht die Naturwissenschaft intensiv das Nervensystem, wo sich das Unsteuerbare austobt, beschreibt Sigmund Freud den Autonomieverlust als letzte und empfindlichste von drei Kränkungen – nämlich als inneren Kampf zwischen einem souveränen Ich und den rebellierenden Gedanken.[1] Gerade der Schlaf, der schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu faszinieren vermag, versetzt den Menschen in einen Zustand, in dem er keine Kontrolle mehr ausüben kann – weder darauf, was im Inneren geschieht, nämlich dem Träumen, noch auf Einflüsse von aussen. Dessen versucht man sich mit luzidem Träumen und der (erfolglosen) Suche nach einem Impfstoff gegen Ermüdung zu bemächtigen.[2]

Der Schlaf beschäftigt neben der Wissenschaft auch die bildende Kunst – und wird oft mit der Sexualität und, wie in Stauffers Zeichnung, mit Psyche und Körper der Frau in Verbindung gebracht: Seit je her bedient sich die Malerei des Motivs der beobachteten, genüsslich Schlafenden.[3] Auch Stauffer fokussiert auf die weiblichen Rundungen, bietet dem Betrachter das Gesäss als Bildmittelpunkt an. Gleichzeitig eröffnet ihm der Akt eine Übungssituation, um seine Technik und Wahrnehmung zu verfeinern.[4] Der Körper als Studienobjekt, das erforscht und wiedergegeben wird: Die Erkundung weiblicher Anatomie und Psyche erfährt im 19. Jahrhundert in der Medizin durch die Erfindung des Spekulums und die Zuschreibung und öffentliche Zurschaustellung spezifisch weiblicher Pathologien besondere Aufmerksamkeit und schwankt dabei zwischen pornografischer Schaulust und wissenschaftlicher Relevanz.[5] Im fragmentierten Modell Stauffers kulminieren sachlich-sexualisierte Erfassung und montagehafte Wiedergabe, die nicht zuletzt an frühe Verfahren der Fotografie erinnert.[6]

 

Karl Stauffer-Bern

Geboren 1857 in Trubschachen, gestorben 1891 in Florenz. Besuchte die Münchner Kunstakademie und war später in Berlin und zeitweise in der Schweiz, Rom und Florenz als Maler, Radierer und Bildhauer tätig.

 

[1] Radkau, Joachim, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München Wien: Carl Hanser, 1998, S. 30 und Freud, Sigmund, «Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse», in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften, 5, 1917, S. 1–7.

[2] Vgl. Léon d’Hervey de Saint-Denys, Les Rêves et les moyens de les diriger, Paris, 1867 und Kinzler, Sonja, Das Joch des Schlafs. Der Schlafdiskurs im bürgerlichen Zeitalter, Köln Weimar Wien: Böhlau, 2011,  S. 160f.

[3] Ebd., S. 106f. und Fibicher, Bernhard, «Süsser Schlaf» und «Schattenseite dieses Lebens». Zur Darstellung Schlafender in der Kunst des 19. Jahrhunderts, Dissertation, Universität Bern, 1986, S. 55.

[4] Vgl. «Verfluchter Kerl!» Karl Stauffer-Bern: Maler, Radierer, Plastiker, Kat. Ausst. Kunstmuseum Bern, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2007, S. 208 und 42.

[5] Vgl. Didi-Huberman, Georges, Invention de l’hystérie. Charcot et l’iconographie photographique de la Salpêtrière, Paris: Macula, 1982.

[6] Zu Stauffers Verwendung der Fotografie vgl. Menz, Cäsar, Karl Stauffer-Bern und die Photographie, Bern: Kunstmuseum, 1978.

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Olivia Baeriswyl

Kunsthistorikerin mit Fokus auf medientheoretische und kulturhistorische Fragestellungen. Seit 2018 beim Verlag Scheidegger & Spiess als Projektleiterin tätig.

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