Publiziert am 11. April 2020 von Lisa Gianotti

Alles zerfällt: Werke im Fokus #5 – Frank Buchser, Flutumfangen

Ferdinand Hodlers Gemälde Aufstieg und Absturz sind Schlüsselwerke der Ausstellung Alles zerfällt. Schweizer Kunst von Böcklin bis Vallotton und halten den Moment grösstmöglicher Spannung zwischen dem narzisstischen Selbstbewusstsein des Menschen und seiner extremen Verletzlichkeit fest. Hodler schuf diese Meisterwerke 1894, während Sigmund Freud – eine weitere, im Kontext dieser Ausstellung wichtige Figur – im Jahr 1917 über die drei grossen Kränkungen des Menschen schrieb. Der Dialog zwischen den präsentierten Kunstwerken und Freuds Theorie ist zentrales Element des Ausstellungskonzepts. Angesichts der Corona-Krise zeigt sich nun, dass die im Kontext der Ausstellung aufgeworfenen Fragen plötzlich sehr aktuell sind. Das neue Virus scheint so unbekannt, trügerisch, allgegenwärtig und heftig zu sein, dass es den Stolz der Menschen des 21. Jahrhunderts untergräbt und unsere Vorstellung, alles im Griff zu haben und zu beherrschen, als Illusion entlarvt. Die Krise beweist, wie falsch wir lagen. «Alles zerfällt» ist zwar die Ausstellung einer historischen Sammlung, sie wird nun aber auf seltsame Weise zu einem Spiegel und einem lebendigen Kommentar zu der uns umgebenden Realität.

Bis die Ausstellung wieder für das Publikum geöffnet sein wird, möchten wir trotz der physischen Einschränkungen zumindest virtuell Einblick in «Alles zerfällt» geben und Ihnen in der begonnenen Blog-Serie weitere Werke der Ausstellung vorstellen. Mit den Beiträgen von Studierenden der Universität Bern und von jungen Kunsthistoriker*innen soll die Diskussion über die Themen und Thesen der Ausstellung angefacht und weiterentwickelt werden. Die Schreibenden erläutern die Kunstwerke, befragen sie aber auch und schlagen neue Lesarten vor. Dabei wird deutlich, dass die Sammlung des Kunstmuseums Bern keine statische Masse ist, sondern ein gewaltiger und dynamischer Speicher, dessen Erforschung verborgene Geschichten und neue, mit den sich verändernden Umständen einhergehende Deutungsmöglichkeiten offenbart.

Buchser-Blog

Frank Buchser, Flutumfangen, 1876, Öl auf Leinwand 69,2 x 102,1 cm. Kunstmuseum Bern, Bernische Kunstgesellschaft, Bern

Frank Buchser, Flutumfangen, 1876

Während seiner vierten und letzten Reise nach England, genauer nach Scarborough, in den Jahren 1875–1877 schuf Frank Buchser (1828-1890) jene grössere Werkgruppe, die heute gemeinhin unter dem Namen Fischermädchen bekannt ist. Mit Hang zur Idealisierung zeigen die Gemälde aus jener Zeit Fischersfrauen in ortsüblicher Kleidung, die meist am Wasser in die Arbeit vertieft sind, mit Fischerutensilien ausgerüstet dem Strand entlanggehen oder liegend dem Blick des Betrachters feilgeboten werden.[1] Die meist idyllisch liebliche Atmosphäre dieser Darstellungen ist im Gemälde Flutumfangen gänzlich verschwunden. In einer neblig-grauen und felsigen Küstenlandschaft liegt auf einem jäh hervorragenden Felsvorsprung ein Fischermädchen, unter ihr das von Wellen bewegte Meer.[2] Fernab von jeglichen Zeugnissen der Zivilisation, in der ungezähmten Natur, stützt sie ihren Kopf in der Hand auf und blickt mit wachen Augen direkt aus dem Bild und dennoch wie ins Leere. Was tut sie an diesem desolaten Ort?

Die Beine überschlagen und die Arme auf dem Felsen abgestützt, scheint sie, wie auf der Lauer, die Ebbe abzuwarten. Die Intimität und Intensität der Szene lässt sich auf den Umstand zurückführen, dass es sich bei der Porträtierten um das Modell oder die vermutliche Geliebte des Künstlers, das irische Fischermädchen «Fanny» , handelt. [3] Trotz dunklem Rock, hellem Überkleid und rotem Halstuch passt sie nicht in Buchsers typische Schilderung jenes Berufsstandes. Die lumpige Kleidung und die ungeschnürten Schuhe, die zerzauste Mähne und vor allem das ausdrucksstarke, nachdenklich und trotzig anmutende Antlitz können als Gegenentwurf zu den verklärten und idealisierten Bildern des einfachen Fischerlebens gelesen werden, die beim kaufinteressierten Publikum Anklang fanden.

Auf einem von der Flut umfangenen Felsen inszeniert Buchser seine zierliche Protagonistin den Elementen komplett ausgesetzt und unterstreicht damit deren fragile Existenz. Die karge Küstenlandschaft bei Scarborough ist zur Metapher einer unbelebten, für den Menschen bedrohlichen Natur geworden, in der sich das Subjekt ohnmächtig wiederfindet. Trotz dieser akuten Gefahr scheinen Figur und Landschaft auf formaler Ebene beinahe zu verschmelzen. Das Schutz gewährende Überkleid widerspiegelt nicht nur die Tonalität, sondern gleichsam die materielle Struktur des Kalksteins und lässt die eindeutige Trennung zwischen äusserer Naturgewalt und innerer Gefühlswelt durchlässig erscheinen.

Frank Buchser
Geboren 1828 in Feldbrunnen, gestorben 1890 ebenda. Zeichenunterricht in Bern, ab 1848 Studium der Malerei an der Accademia di San Lucca in Rom und anschliessend Studienreisen nach Paris und Antwerpen. In der Folge zahlreiche Arbeitsaufenthalte in Europa, Nordafrika und Nordamerika, die in ein stilistisch und motivisch vielseitiges Werk mündeten. In der Schweiz (kultur-)politisches Engagement.

[1] Zu den Englischen Fischermädchen vgl.: Frank Buchser. 1828–1890, Kat. Ausst. Kunstmuseum Solothurn, Einsiedeln: Eidolon, 1990, S. 193-205.

[2] Der Schauplatz dieser Szene ist möglicherweise auf Fotografien John Inskips aus dem Nachlass Buchsers festgehalten. Zur Wechselwirkung zwischen Fotografie und Malerei im Werk Buchsers während der letzten Englandreise 1875–77, vgl. Von Arkadien bis Atlanta. Photographien aus dem Nachlass von Frank Buchser (1828–1890), Kat. Ausst. Kunstmuseum Basel – Kupferstichkabinett, Bielefeld: Kerber, 2009, S. 76-107, hier S. 96-99.

[3] «Fanny» ist auf verschiedenen Darstellungen der Fischermädchen zu erkennen, in ähnlicher Szenerie mit demselben Felsen auf dem Gemälde Fischermädchen am Meer (undatiert), Öl auf Leinwand, 53.5 x 43.5 cm, Privatbesitz (SIK 150217 0003) und prominent auf Die Trauer Irlands (um 1876), vgl.: Frank Buchser. 1828–1890, Kat. Ausst. Kunstmuseum Solothurn, Einsiedeln: Eidolon, 1990, S. 193-205, hier S. 205.

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Lisa Gianotti

Lisa Gianotti studiert im Masterstudiengang Kunstgeschichte und Bildtheorie an der Universität Basel. Zuvor BA der Kunstgeschichte und Religionswissenschaft in Basel und Florenz.

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