Publiziert am 28. August 2020 von Nina Selina Liechti

ALLES ZERFÄLLT: WERKE IM FOKUS #17 – ANNIE STEBLER-HOPF, MÄRJELENSEE

Ferdinand Hodlers Gemälde «Aufstieg» und «Absturz» sind Schlüsselwerke der Ausstellung Alles zerfällt. Schweizer Kunst von Böcklin bis Vallotton und halten den Moment grösstmöglicher Spannung zwischen dem narzisstischen Selbstbewusstsein des Menschen und seiner extremen Verletzlichkeit fest. Hodler schuf diese Meisterwerke 1894, während Sigmund Freud – eine weitere, im Kontext dieser Ausstellung wichtige Figur – im Jahr 1917 über die drei grossen Kränkungen des Menschen schrieb. Der Dialog zwischen den präsentierten Kunstwerken und Freuds Theorie ist zentrales Element des Ausstellungskonzepts. 

Mit den Beiträgen von Studierenden der Universität Bern und von jungen Kunsthistoriker*innen soll die Diskussion über die Themen und Thesen der Ausstellung angefacht und weiterentwickelt werden. Die Schreibenden erläutern die Kunstwerke, befragen sie aber auch und schlagen neue Lesarten vor. Dabei wird deutlich, dass die Sammlung des Kunstmuseums Bern keine statische Masse ist, sondern ein gewaltiger und dynamischer Speicher, dessen Erforschung verborgene Geschichten und neue, mit den sich verändernden Umständen einhergehende Deutungsmöglichkeiten offenbart.

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Annie Stebler-Hopf, Märjelensee, o. J., Öl auf Leinwand, 110,8 x 190 cm. Kunstmuseum Bern, Schenkung Sylvia Y. Stebler

Annie Stebler-Hopf, Märjelensee, undatiert

Wie durch ein Fenster bietet das Gemälde Sicht auf einen Walliser Gletschersee. Es ist die Perspektive eines oder einer Wandernden, die im braunen Gras stehend vom Ufer aus auf den Märjelensee blickt. Der dargestellte See ist nicht auf den ersten Blick als Gletschersee erkennbar. Wer die Umgebung nicht kennt, sieht nicht viel mehr als einen unberührten Fleck Natur. Über der farblich gedeckt gehaltenen Gebirgslandschaft mit See, in der alles etwas unscharf wirkt, wölbt sich ein bewölkter Himmel.

Über die aus Thun stammende Annie Stebler-Hopf und ihre Arbeiten ist nur wenig bekannt, auch auf dem hier besprochenen Gemälde ist kein Entstehungsdatum verzeichnet. Das Werk wird wohl zwischen Ende 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden sein, also kurz nach der Blütezeit der romantischen Landschaftsmalerei.[1] Das Bild folgt – in Sujet und Komposition – einer langen Tradition der Bergmotive in der bildenden Kunst.

Lange wurden Berge in Kunst und Literatur als Symbole für das Sakrale und Geistliche verwendet.[2] Doch noch vor dem Aufkommen der Romantik wurden Berglandschaften vermehrt als Gegenentwürfe zum Irdischen oder Städtischen gesehen. Mit der Romantik werden menschenleere Landschaften und Berge schliesslich zum Symbol für Orte der Sehnsucht.[3] Vielleicht weil der Blick in diese weiten Landschaften nebst dem Gefühl von Ruhe und Geborgenheit immer wieder auch ein Verlangen nach mehr – manche würden es Fernweh nennen – auslöst. Die Darstellungen variieren dabei von fiktiven Landschaften bis zu – wie hier – realen Orten.

Obwohl es sich bei dem dargestellten See um einen realen Ort handelt, wirkt die Szene – in seiner Unberührtheit und Unschärfe – fern und traumhaft. Wer schon einmal am Märjelensee war, erkennt die Landschaft, würde sich aber wohl über den Blick und die Perspektive wundern. Der Ort wird als real benannt und erkannt, wirkt in seiner Darstellung jedoch beinahe fiktiv. Vielleicht wurde die Landschaft von der Künstlerin nicht direkt vor Ort gemalt, sondern ist erst später aus der Erinnerung entstanden. Das Bild könnte aber auch als Darstellung des geistigen Rückzugsortes der eigenen Psyche interpretiert werden.[4] Ähnlich wie der reale Märjelensee nur durch eine anspruchsvolle Bergtour zu erschliessen ist, so ist auch das Bild das Resultat einer Selbsterkundung.

Vielleicht ist die eigene Psyche wie auch der Gletschersee nicht immer leicht zugänglich und umgeben von Bergen oder inneren Hürden, die es zu überwinden gilt. Die Ruhe und Idylle unseres Geistes bleibt stets eine Sehnsucht, die selbst wenn wir ihr nah scheinen, wie der bewölkte Himmel über dem See, durchzogen und von Einbrüchen bedroht bleibt.

Annie Stebler-Hopf
Geboren 1861 in Thun, gestorben 1918 in Zürich. Ausbildung in Berlin und in Paris, wo sie regelmässig am Salon ausstellte.

 

[1] SIKART, o.D., o.A. „Stebler-Hopf, Annie“ in: SIKART Lexikon zur Kunst in der Schweiz, (Zugriff 10.08.20)
[2] Vgl. Werner M. Egli und Ingrid Tomkowiak, „Berge als extreme Landschaften, Sinnbilder und Perspektiven“ in Berge, hrsg. von Werner M. Egli und Ingrid Tomkowiak, Zürich: Chronos Verlag, 20117 ff.
[3] Der romantische Blick: das Bild der Alpen im 18. und 19. Jahrhundert, hrsg. von Beat Stutzer und Yvonne Boerlin-Brodbeck, Chur: Kunstmuseum, 2001, 13.
[4] In der Psychoanalyse beispielsweise wird vom „bekannten Subjekt“ – Symbole und Begehren des Unterbewussten, die sich gegen aussen anders zeigen – gesprochen, dass es im Kontext zu ergründen und zu verorten gilt. Siehe: Karl-Josef Pazzini, Bildung vor Bildern: Kunst – Pädagogik – Psychoanalyse, Bielefeld: Transcript, 2015, 279 ff.

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Nina Selina Liechti

Nina Selina Liechti ist Master-Studentin der Kunstgeschichte mit Ausstellungs- und Museumswesen an der Universität Bern. Sie beteiligte sich unter anderem am Vermittlungs- und Kunstprogramm Étude der Kunsthalle Bern.

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