ALLES ZERFÄLLT: WERKE IM FOKUS #16 – ANNA ELISABETHA VON ERLACH, AUF DER GARTENBANK
Ferdinand Hodlers Gemälde «Aufstieg» und «Absturz» sind Schlüsselwerke der Ausstellung Alles zerfällt. Schweizer Kunst von Böcklin bis Vallotton und halten den Moment grösstmöglicher Spannung zwischen dem narzisstischen Selbstbewusstsein des Menschen und seiner extremen Verletzlichkeit fest. Hodler schuf diese Meisterwerke 1894, während Sigmund Freud – eine weitere, im Kontext dieser Ausstellung wichtige Figur – im Jahr 1917 über die drei grossen Kränkungen des Menschen schrieb. Der Dialog zwischen den präsentierten Kunstwerken und Freuds Theorie ist zentrales Element des Ausstellungskonzepts.
Mit den Beiträgen von Studierenden der Universität Bern und von jungen Kunsthistoriker*innen soll die Diskussion über die Themen und Thesen der Ausstellung angefacht und weiterentwickelt werden. Die Schreibenden erläutern die Kunstwerke, befragen sie aber auch und schlagen neue Lesarten vor. Dabei wird deutlich, dass die Sammlung des Kunstmuseums Bern keine statische Masse ist, sondern ein gewaltiger und dynamischer Speicher, dessen Erforschung verborgene Geschichten und neue, mit den sich verändernden Umständen einhergehende Deutungsmöglichkeiten offenbart.
Anna Elisabetha von Erlach, Auf der Gartenbank, undatiert
Auf einer dunkelgrünen Gartenbank, hinterfangen von dichtem Laubwerk, sitzt in blaugrünem Kleid eine junge Frau, die ihrem zierlichen Körper Rast gönnt. Den Kopf leicht zur Seite geneigt, das Gesicht im Dreiviertelprofil zeigend, blickt sie fragend auf. Ihre Lippen hält sie verschlossen, als würde sie Worte zurückdrängen. In einer merkwürdig anmutenden grazilen Geste berührt sie mit den Fingerspitzen die Sitzfläche der Bank. Macht sie auf den leeren Platz neben sich aufmerksam?
Die Biografie Anna Elisabeth von Erlachs (geb. 1856 in Bern) lässt ebenso viele Fragen offen, wie das Gemälde. Während einige Stationen ihrer Laufbahn bekannt sind, ist ihr Werk derzeit noch grösstenteils unerforscht. Ähnlich wie bei anderen Zeitgenossinnen, die als anerkannte Malerinnen gegen Ende des 19. Jahrhunderts tätig waren, etwa Clara von Rappard (1857–1912, vgl. Die Jungfrau im Nebel), Louise Breslau (1856–1927, vgl. Der Fünfuhrtee, 1883) und Ottilie von Roederstein (1859–1937), fand auch von Erlachs Werk in der Schweizer Kunstgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts nur wenig Beachtung.[1]
Die schmächtige Statur, das erschöpfte Antlitz und das alabasterfarbene Inkarnat sind augenscheinliche Anzeichen, die auf die Zerbrechlichkeit der dargestellten Frau hinweisen und die Frage nach deren physischen und psychischen Verfassung aufwerfen. Mit den körperlichen Auswirkungen einer langwierigen Erkrankung war Anna Elisabeth von Erlach aus eigener Erfahrung bestens vertraut. Im Alter von 36 Jahren musste sie ihre künstlerische Tätigkeit aufgrund einer chronischen Krankheit, die zwölf Jahre zuvor ausgebrochen war, einstellen.[2] Handelt es sich bei diesem Porträt vielleicht um eine Reminiszenz an die eigene Krankheitsgeschichte, gar um eine Verbildlichung inneren Zerfalls?
Die räumliche Distanz, die sich im Bild zwischen dem Betrachterstandpunkt und der Dargestellten auftut, sowie Mimik und Gestik der Frau deuten auf eine sich ausserhalb des Bildes befindliche Person hin, die sich der Dargestellten nähert und dadurch ihre Abgeschiedenheit durchbrechen würde. Das Zusammentreffen von Annäherung, Entrückung, Kommunikation und Isolation erschweren die eindeutige Lesbarkeit der Situation und tragen zur Rätselhaftigkeit der Atmosphäre bei.
Unübersehbar durch ihre intensive Farbigkeit sind die gepflückten roten Nelken, welche die Dargestellte mit der rechten Hand auf ihrem Schoss gelegt hat. Eine Pflanze zu deflorieren, sie ihrer Blüte zu berauben, fungiert gemeinhin als Symbol für die weibliche Entjungferung, ein Motiv, das nicht nur in der bildenden Kunst auf eine lange Tradition zurückblickt, sondern genauso in Sigmund Freuds Analyse von Träumen Niederschlag fand.[3] Durch die Entschlüsselung der Traumsymbolik erhoffte sich Freud Zugang zu jenen Komplexen, die das Bewusstsein lieber verdrängt sähe. Handelt es sich bei Auf der Gartenbank möglicherweise nicht um ein Selbstbildnis, sondern um die Bildwerdung eines Traumes?
Anna Elisabetha von Erlach
Geboren 1856 in Bern, gestorben 1906 ebenda. Ausbildung an der Zeichenschule in Basel, danach 1872–1889 Studium in Karlsruhe mit Weiterbildungen in Privatateliers in Berlin bei Karl Gussow, in Düsseldorf bei Edouard Gebhardt und in Paris bei Carolus Duran und J. J. Henner. 1890–1891 Studienreisen nach Rom und Florenz. Malte Porträts, Blumenstillleben und Landschaften und stellte in der Schweiz und Paris aus.
[1] Vgl. Huber, Dorothee, „Zur Präsenz der Künstlerinnen im schweizerischen Kunstbetrieb 1890-1928“, in: Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte, 43, 4, Zürich, 1986, S. 399-402.
[2] Zur Biografie der Künstlerin vgl.: Appenzeller, H., „Erlach, Anna Elisabeth von“, in: Brun, Carl (Hg.), Schweizerisches Künstler Lexikon, Band 1, Frauenfeld: Huber & Co., 1905, S.425.
[3] Freud nahm die Symbolik der Defloration in seine Traumdeutung auf. Darin analysiert sein Kollege Alfred Robitsek den Traum einer «nicht neurotischen» Patientin, um die «volle Identität der Mechanismen wie der Symbolik» aufzuzeigen, vgl. Freud, Sigmund, „Zur Frage der Symbolik in den Träumen Gesunder“, in: Gesammelte Werke. Die Traumdeutung. Über den Traum, Bd. 2 und 3, Frankfurt am Main: Fischer, 1942, S.378-382.
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