Publiziert am 6. August 2020 von Nina Selina Liechti

ALLES ZERFÄLLT: WERKE IM FOKUS # 15 – PAUL KLEE, DROHENDES HAUPT

Ferdinand Hodlers Gemälde «Aufstieg» und «Absturz» sind Schlüsselwerke der Ausstellung Alles zerfällt. Schweizer Kunst von Böcklin bis Vallotton und halten den Moment grösstmöglicher Spannung zwischen dem narzisstischen Selbstbewusstsein des Menschen und seiner extremen Verletzlichkeit fest. Hodler schuf diese Meisterwerke 1894, während Sigmund Freud – eine weitere, im Kontext dieser Ausstellung wichtige Figur – im Jahr 1917 über die drei grossen Kränkungen des Menschen schrieb. Der Dialog zwischen den präsentierten Kunstwerken und Freuds Theorie ist zentrales Element des Ausstellungskonzepts. 

Mit den Beiträgen von Studierenden der Universität Bern und von jungen Kunsthistoriker*innen soll die Diskussion über die Themen und Thesen der Ausstellung angefacht und weiterentwickelt werden. Die Schreibenden erläutern die Kunstwerke, befragen sie aber auch und schlagen neue Lesarten vor. Dabei wird deutlich, dass die Sammlung des Kunstmuseums Bern keine statische Masse ist, sondern ein gewaltiger und dynamischer Speicher, dessen Erforschung verborgene Geschichten und neue, mit den sich verändernden Umständen einhergehende Deutungsmöglichkeiten offenbart.

Paul Klee Drohendes Haupt, 1905, 37 Radierung 19,5 x 14,3 cm Zentrum Paul Klee, Bern

Paul Klee, Drohendes Haupt, 1905, 37, Radierung, 19,5 x 14,3 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

 

Paul Klee, Drohendes Haupt, 1905

Drohendes Haupt gehört nicht zu den bekannten farbigen Gemälden von Paul Klee. Hier wird vergebens nach der Formhaftigkeit und Farbenvielfalt gesucht, die Klees Spätwerk ausmachen. Die Radierung auf weissem Grund in der bescheidenen Grösse von 19.6 x 14.6 cm zeigt einen rasierten Kopf, der – wie der Titel bereits ankündigt – drohend in der Mitte des Bildes platziert ist. Hinter einem Objekt, vielleicht einem Tisch, stehend, starrt das Haupt eindringlich aus dem Bild heraus. Obwohl es hinter dem Objekt hervorzublicken scheint und einen Körper erahnen lässt, erscheint das Gesicht durch die starre Haltung und Frontalansicht nicht lebendig, sondern vielmehr wie das Gesicht einer Büste.

Ganz besonders fällt die kleine Fantasiekreatur auf, die auf dem Haupt sitzt, sich nach rechts dreht und sich auf die nicht sichtbaren Hinterbeine erhoben hat, so dass man ihren Kopf im Profil sieht. Sie ähnelt in ihrer Gestalt mit der spitzen Schnauze, dem dunklen Fell und dem langen, kleinen Körper einem Marder. Auf dem Kopf trägt sie ein geschwungenes, dünnes Geweih, das in seiner Form den langen, mit jeweils drei Krallen versehenen Vorderbeinen des Tieres ähnelt. Die linke Vorderpfote und der pelzige Schwanz, der in seiner Form an den von Meeresmonstern erinnert, sowie die gespaltene Schlangenzunge befinden sich vom Betrachtenden aus auf der rechten Seite des Kopfes, während die rechte Pfote des Tieres genau auf dem Scheitel des Gesichtes und somit in der vertikalen Bildachse liegt.

Die Haare des Kopfs sind kurzgeschoren, ein Schnauz ist angedeutet, die breiten Lippen sind leicht gekräuselt, die Nase ist lang und schmal, die zusammengezogene Augenbrauen schliessen sich direkt an und bilden mit der Nase eine Y-Form. Die runden Augen liegen tief in den mandelförmigen und weitauseinanderstehenden Augenhöhlen. Durch die runden Pupillen und die dunkle Iris wirkt der Blick bedrohlich und kritisch. Obwohl das Haupt frontal auf den Betrachtenden ausgerichtet ist, schweift der Blick rechts an ihm vorbei in die Ferne ab.  Das kleine Monster auf dem Kopf blickt die Betrachtenden hingegen direkt an. Wie so oft im Werke Klees, wird der Mensch nicht schön, sondern überzeichnet, beinahe grotesk dargestellt. Klee zeigt den Menschen mit seinen „Monstern“. Bei der Betrachtung von Drohendes Haupt fallen die eckigen Gesichtszüge, die Frisur und der eindringliche Blick auf, die an den jungen Klee zu erinnern scheinen. Versteckt sich in der Darstellung etwa ein Selbstporträt?[1]

Und das Biest? Kommt es gar aus dem Kopf des Menschen? Es ist nicht gross und wütend, sondern klein und windig wie ein Wiesel, es steht nicht für das innere Tier im Manne, das zu Wutausbrüchen oder Gewalt verführt, vielmehr kontrolliert es mit seinem – hier bildlich dargestellten – Griff in die Psyche des Menschen dessen Denken und Handeln. Der kleine Dämon wirkt im Unbewussten als stetiger Begleiter und steht symbolisch für unerkannte Begierden und Triebe. Je länger man die Komposition betrachtet, desto mehr drängen sich dem Betrachtenden die Fragen auf: Droht hier das menschliche Haupt oder droht das Tier über dem Haupt? Steht das Tier im Menschen über dem menschlichen Denken und Handeln? Und wer kann wen bezwingen?

[1] Mehr zum Drohenden Haupt siehe : Gregor Wedekind, Paul Klee: Inventionen, hrsg. von Paul Klee, Berlin: Reimer, 1996. S. 146 ff.

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Nina Selina Liechti

Nina Selina Liechti ist Master-Studentin der Kunstgeschichte mit Ausstellungs- und Museumswesen an der Universität Bern. Sie beteiligte sich unter anderem am Vermittlungs- und Kunstprogramm Étude der Kunsthalle Bern.

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