Publiziert am 1. Juli 2020 von Renato Moser

ALLES ZERFÄLLT: WERKE IM FOKUS # 13 – ERNEST BIÉLER, LES SOURCES

Ferdinand Hodlers Gemälde «Aufstieg» und «Absturz» sind Schlüsselwerke der Ausstellung Alles zerfällt. Schweizer Kunst von Böcklin bis Vallotton und halten den Moment grösstmöglicher Spannung zwischen dem narzisstischen Selbstbewusstsein des Menschen und seiner extremen Verletzlichkeit fest. Hodler schuf diese Meisterwerke 1894, während Sigmund Freud – eine weitere, im Kontext dieser Ausstellung wichtige Figur – im Jahr 1917 über die drei grossen Kränkungen des Menschen schrieb. Der Dialog zwischen den präsentierten Kunstwerken und Freuds Theorie ist zentrales Element des Ausstellungskonzepts. 

Mit den Beiträgen von Studierenden der Universität Bern und von jungen Kunsthistoriker*innen soll die Diskussion über die Themen und Thesen der Ausstellung angefacht und weiterentwickelt werden. Die Schreibenden erläutern die Kunstwerke, befragen sie aber auch und schlagen neue Lesarten vor. Dabei wird deutlich, dass die Sammlung des Kunstmuseums Bern keine statische Masse ist, sondern ein gewaltiger und dynamischer Speicher, dessen Erforschung verborgene Geschichten und neue, mit den sich verändernden Umständen einhergehende Deutungsmöglichkeiten offenbart.

Ernest Biéler, Les Sources, 1900, Öl auf Leinwand, 172 x 486 cm. Kunstmuseum Bern

Ernest Biéler, Les Sources, 1900
Als schwarze Silhouette erheben sich Bergkuppen hinter acht Frauenfiguren, welche beinahe symmetrisch um drei Quellen gruppiert sind. Ein Rest von rosafarbenem Licht fällt über die dunklen Bergrücken und spiegelt sich im sanft bewegten Wasser. Die Figuren scheinen in ihren Bewegungen festgefroren. Bewegung entsteht einzig durch die wallenden Gewänder der beiden zentralen Figuren innerhalb deren statisch wirkenden Drehbewegung

Mit Les Sources und Les Feuilles Mortes (1899) gewann Biéler an der Pariser Weltausstellung von 1900 die Silbermedaille.[1] In Les Sources schafft er es besonders gut, die verschiedenen Kunstrichtungen des 19. Jahrhunderts aufzugreifen und harmonisch zu verbinden. Der Bezug zum Realismus lässt sich in der Darstellung der erleuchteten Bergketten erkennen. Biélers Leidenschaft für Licht und Farbe, wie sie sich in seinen zur selben Zeit entstandenen Bildern aus der Walliser Wohngemeinde Savièse finden, reduziert er hier allerdings auf ein Minimum. Die Darstellung versinkt in der Dämmerung im Schatten der Berge. Animiert wird die Szene nur durch die rosafarbenen Lichtreflexe im Wasser. Das naturverbundene und einfache bäuerliche Leben ist für Biéler das «ursprünglich schweizerische» Leben.[2] Die Referenz an die Präraffaeliten wird deutlich erkennbar in den Frauenfiguren, die obwohl bekleidet als Quellnymphen zu identifizieren sind. Parallelen zu Edward Burne-Jones‘ (geb. 1833 in Birmingham) Gemälde The Mirror of Venus (1877) zeigen sich sowohl in der Komposition, als auch im Bildthema. In Biélers Darstellung der Quellnymphen weichen sich ihre Gesichtszüge im Dämmerlicht auf und oszillieren zwischen Realität und Mythologie. Die acht Frauen wirken als Mischwesen und symbolisieren die unberührte Natur der Berge und das unverdorbene Leben fernab der Stadt; ein unerreichbares Ideal. Wenngleich sanft wirkend, erwecken sie mit ihrer Unerreichbarkeit Begehren, doch die Stimmung suggeriert eine drohende Gefahr. Biéler bettet die Szene nicht in ein entrücktes Arkadien ein, sondern in das real existierende Walliser Bergpanorama des Val d’Hérens. Mit dieser Verknüpfung schlägt er eine Brücke zwischen Realismus und Symbolismus.

Durch die Integration mehrerer Stilrichtungen fängt Biéler in Les Sources die Unruhe des Fin de Siècle ein. Angst vor der Zukunft, Zweifel am Leben und Flucht aus der Realität verbildlicht er in der unheimlichen Barriere der Bergwand, hinter der auch das letzte Licht bald verschwunden sein wird. Den Betrachtern wird bewusst, dass der schmale Lichtstreifen am Horizont nur vage Hoffnung und keine Erlösung ist, und sie damit in Ungewissheit zurücklässt. Das bei Tag leuchtende Panorama der heilen Bergwelt wird bei schwindendem Licht zum unberechenbaren und feindlichen Ort. Die an sich reinen und stillen Quellwasser lassen gefährliche Tiefen erahnen. Die mythologisch bevölkerte Natur der Walliser Berge dient Biéler als Metapher für die in seiner Zeit aktuellen Auseinandersetzung mit der Psyche. Darin klingt die Referenz an die Freud’sche Psychoanalyse an, die Auseinandersetzung mit den unbekannten Tiefen der menschlichen Seele.

Ernest Biéler
Geboren 1863 in Rolle VD. Die Ausbildung als Maler absolvierte er in Paris an verschiedenen Kunstakademien. Mitbegründer der «École de Savièse» und ein früher Verfechter einer Schweizer Volkskunst. Gestorben 1948 in Lausanne.

Literaturverzeichnis
[1] Mathier, Ethel (Hg.) (impr. 2011): Ernest Biéler, 1863-1948. Réalité rêvée. Martigny: Fondation Pierre Gianadda.
[2] Zutter, Jörg (Hg.) (1999): Ernest Biéler, 1863-1948. Du réalisme à l’Art nouveau. Lausanne: Musée cantonal des Beaux-arts.

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Autor

Renato Moser

Renato Moser studiert Kunstgeschichte an der Universität Bern. Er arbeitet als wissenschaftlicher Assistent in der Abteilung Provenienzforschung am Kunstmuseum Bern.

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