Publiziert am 17. Juni 2020 von Gregor von Kerssenbrock-Krosigk

ALLES ZERFÄLLT: WERKE IM FOKUS # 12 – ALBERT WELTI, UNTERWELT

Ferdinand Hodlers Gemälde «Aufstieg» und «Absturz» sind Schlüsselwerke der Ausstellung Alles zerfällt. Schweizer Kunst von Böcklin bis Vallotton und halten den Moment grösstmöglicher Spannung zwischen dem narzisstischen Selbstbewusstsein des Menschen und seiner extremen Verletzlichkeit fest. Hodler schuf diese Meisterwerke 1894, während Sigmund Freud – eine weitere, im Kontext dieser Ausstellung wichtige Figur – im Jahr 1917 über die drei grossen Kränkungen des Menschen schrieb. Der Dialog zwischen den präsentierten Kunstwerken und Freuds Theorie ist zentrales Element des Ausstellungskonzepts. 

Mit den Beiträgen von Studierenden der Universität Bern und von jungen Kunsthistoriker*innen soll die Diskussion über die Themen und Thesen der Ausstellung angefacht und weiterentwickelt werden. Die Schreibenden erläutern die Kunstwerke, befragen sie aber auch und schlagen neue Lesarten vor. Dabei wird deutlich, dass die Sammlung des Kunstmuseums Bern keine statische Masse ist, sondern ein gewaltiger und dynamischer Speicher, dessen Erforschung verborgene Geschichten und neue, mit den sich verändernden Umständen einhergehende Deutungsmöglichkeiten offenbart.

Albert Welti, Unterwelt, 1888, Radierung auf Zink, 19,7 x 22,2 cm. Eigentum der Stadt Bern, deponiert als Dauerleihgabe im Kunstmuseum Bern

 

Albert Welti, Unterwelt, 1888
Wir blicken hinein in eine dunkle Schlucht, nur aus dem Hintergrund erleuchtet. Erst allmählich lässt sich die Schar an Menschen erkennen, eher sind es Schatten, die sich durch dieses Zwielicht bewegen, weg vom Licht zum steilen Flussufer. Ein einziges Boot mit stehendem Ruderer, bereits besetzt, fährt hinaus aus unserem Blick, nach rechts in die Finsternis hinein. Auf den Felsen winden sich Ungeheuer: undefinierbare Kreaturen, zwischen Lindwurm und Fledermaus. Die Schattenmenge scheint unbewegt, ohne erkennbare Augen, ohne sich anzuschauen. Einige wenige blicken am Ufer hinab in ihre Spiegelbilder, die auf der glatten Oberfläche des Flusses schimmern.

Für viele Künstler des 19. Jahrhunderts waren Flüsse Inbegriff einer reissenden und gewaltsamen Naturkraft. Nicht so für Albert Welti (1862 – 1912). Das Wasser auf seiner Radierung Unterwelt ist spiegelnde Textur, undurchdringbare Oberfläche. Wie auch die Felsen der umgebenden dunklen Schlucht ist sie überzogen mit der schroffen, erkratzten Textur des Griffels. Es scheint eine Spannung zu herrschen: die Lakonik und Regungslosigkeit dieser Unterwelt, überzogen von dem temperamentvollen Duktus des Künstlers, der alles mit tobenden Linien bedeckt. Besonders spürt man jene in den Figuren: Gestalten, stumm wandernd, und doch geballte, fast brutale schwarze Linie, manchmal fast auseinanderfallend.

«Die Augen sind nicht hier
Hier sind keine Augen mehr
In diesem Tal da Sterne sterben
In diesem Hohlweg
Dem Stück Kinnbacken zu unseren verlorenen Reichen 

Auf diesen letzten Sammelplatz
Tasten wir nach dem andern
Sprachlos geschart
Am Ufer des reißenden Stroms»[1] 

Diese Verse aus T. S. Eliots (1888 – 1965) Gedicht The Hollow Men  von 1925, hier in der Übersetzung von Hans Magnus Enzensberger, konnte Albert Welti (1862 – 1912) nicht kennen. Umso erstaunlicher ist es, wie gut sich beide Werke komplementieren. Gemeinsam beziehen sie sich auf Dantes «Divina Commedia», in welcher der Totenfluss Acheron beschrieben wird, den die Sünder mit Hilfe des Fährmanns Charon überqueren müssen. Eliot versetzt seine Leserschaft mitten in die Menge der Verlorenen, worin sich ein wichtiger Unterschied zu Welti ergibt. Seine Radierung scheint eher die Vision eines Aussenstehenden zu sein, weit sind wir von den Schatten entfernt, die dort über das Ufer schreiten.

Welti selbst schrieb nie etwas zu dieser Radierung, die er 1888, wahrscheinlich noch vor seiner Lehre bei Arnold Böcklin (1827 – 1901), erschuf. Schon im Todesjahr Weltis psychologisierte dessen Freund Leopold Weber: «…das Eigentümliche an Welti war, dass er […] nicht mit den Augen bloss schaute, sondern dass ihm das Herz unentwegt dreinredete…».[2] In der Unterwelt scheint sich diese Spannung auf dem Blatt selbst abzuspielen: Weltis fast brutales Einwirken auf die Druckplatte macht auf ihn als Künstler, als subjektiv Erzählenden aufmerksam. Wir erleben seine Vision.

 

Albert Welti
Geboren 1862 in Zürich. Ab 1882 Studium an der Kunstakademie in München, das er aber 1888 abbricht, um bei Arnold Böcklin in die Lehre zu gehen. Ab 1908 Arbeit an dem Fresko für den Ständeratsaal des Bundeshauses. 1912 stirbt Albert Welti in Bern.

[1] Eliot, Thomas S., „Die hohlen Männer. Übersetzt von Hans Magnus Enzensberger“, in: Eva Hesse (Hg.), T.S. Eliot, Gesammelte Gedichte 1909–1965, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988, hier S. 131.
[2] Weber, Leopold, Aus Weltis Leben. Fünfzig Blätter seiner Kunst zu einem Bilde seines Lebens, München: Kunstwart Verlag, 1912, hier S. 10.

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Gregor von Kerssenbrock-Krosigk

Bachelorstudent und Hilfsassistent am Institut für Kunstgeschichte der Neuzeit an der Universität Bern.

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