Publiziert am 9. September 2016 von Hilar Stadler

Adolf Wölfli – Kartografie der Imagination

Das Werk von Adolf Wölfli (1864-1930) ist einzigartig und eröffnet auch bei der wiederholten Begegnung Überraschungen und Offenbarungen. Wölfli sei ein Virus, hat mir kürzlich ein Kollege gesagt, an dem man sich leicht anstecken könne. So ist es. Und mit der Neuhängung des Wölfli-Saals in der Sammlung des Kunstmuseums Bern ist das neu zu überprüfen. Wölflis Werk ist gewiss einer jener USP (Unique Selling Proposition) im Portfolio des Kunstmuseum Bern, welche den besonderen Charakter dieser Sammlung ausmacht. Denn in keinem anderen Museum der Welt hat das Publikum die Gewissheit, dem eindrücklichen Aussenseiter Adolf Wölfli in einer repräsentativen Werkgruppe zu begegnen.

woelfli_blog_a

Aufnahme vom neu gehängten Wölfli-Saal “Kartografie der Imagination”.

Schier unermesslich ist die Welt von Adolf Wölfli, die er sich von 1908 bis 1930 in der Abgeschiedenheit der Psychiatrischen Klinik Waldau in Form eines fiktiven autobiografischen Reiseberichts erschrieben hat. So gross ist dieses Universum, dass es selbst in den Weltraum vordringt, der mit den uns bekannten Zahlen und Längeneinheiten nicht zu definieren ist. Um die Grösse zu vermessen erfindet Wölfli ein neues Zahlensystem, dessen höchste Ziffer die Zahl „Zorn“ ist.

Haltepunkte in diesem Universum – einem über 25‘000 Seiten errichteten Gedankengebäude – sind seine topografischen Ansichten jener Orte, die er auf seinen erfundenen Reisen besucht. Eine kleine Auswahl aus diesem Werkzusammenhang, den sogenannten Landkarten-Bildern, ist in der Sammlungspräsentation des Kunstmuseums Bern aktuell zu einer Präsentation zusammengestellt. Die Zeichnungen stammen hauptsächlich aus der autobiografischen Erfindung „Von der Wiege bis zum Graab“, die in der Zeit von 1908 bis 1912 als erster Teil des umfangreichen erzählerischen Werks entstanden ist.

woelfli_blog_b

Ein sogenanntes Landkarten-Bild aus der Sammlungspräsentation. Adolf Wölfli (1864 – 1930), Der Brand=Strand in der Graphschaft, Arsuk, 1911 Bleistift und Farbstift auf Zeitungspapier 99,6 x 72,0 cm Adolf Wölfli-Stiftung, Kunstmuseum Bern, Bern.

Die Illustrationen ergänzen Wölflis Reisebericht mit Landkartendarstellungen der imaginierten Weltgegenden, welche der Held der Geschichte – ein Alter Ego des Künstlers – in Begleitung seiner Getreuen besucht und erforscht. Sie zeigen die topographischen Verhältnisse an den vorgestellten Orten und überführen die imaginierten Welten in konkrete Darstellungen. Sie sind insofern Vermessungen von Wölflis Imagination; sie sind eine Art Mapping seiner Fantasie.

Daniel Baumann, der ehemalige Leiter der Adolf Wölfli-Stiftung, hat im Zusammenhang seiner Schriften von einer ausufernden, kaum überblickbaren Kopfreise gesprochen. Wie andere Kopfreisende – Jules Verne oder Karl May – hat sich auch Wölfli von Atlanten, Reisebüchern und illustrierten Zeitschriften leiten lassen. Jedoch ist bei Wölfli nicht eine glaubwürdige Abbildung einer möglichen Wirklichkeit das Ziel der Erfindung, sondern die Erschaffung einer eigenen entrückten Wirklichkeit. Die Aussenwelt dient ihm als Steinbruch zur Konstruktion seiner eigenen Realität. Wölflis Kopfreisen reflektieren zwar die Welt, von der er mit seiner Verwahrung in der Psychiatrischen Klinik ausgeschlossen blieb, gleichzeitig sind sie endlose Tauchgänge in seine Innenwelten.

Der Wölfli-Saal wurde soeben neu gehängt und kann mit einem Eintritt für die Sammlung des Kunstmuseum Bern besucht werden. 

Veröffentlicht unter Allgemein, Experten am Werk
Schlagwörter: ,

Autor

Hilar Stadler

Hilar Stadler ist seit 2015 Leiter der Adolf Wölfli-Stiftung am Kunstmuseum Bern. Er kuratiert eine Ausstellung über Adolf Wölflis Werk, die 2017 im Hyogo Prefectural Museum of Art Kobe, im Nagoya Museum of Modern Art sowie in der Tokyo Station Gallery gezeigt wird.

Kommentare

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Bitte füllen Sie alle Felder aus.

Time limit is exhausted. Please reload the CAPTCHA.

Keine Kommentare