Publiziert am 30. Dezember 2015 von Matthias Frehner

2016 – ein Jahr der Sammlung

Die Sammlung ist das Kapital eines Museums. Sie bestimmt seinen Stellenwert und trägt durch ihr Prestige wesentlich zum Renommee ihrer Heimatstadt bei. Was wäre Paris ohne den Louvre? New York ohne das Metropolitan und das MoMA? Was Sankt Petersburg ohne die Ermitage? Und was Bern ohne das Kunstmuseum und das Zentrum Paul Klee? Ja, in Bern tragen die öffentlichen Kunstsammlungen mit dazu bei, dass die Bundeshauptstadt ein fixes Ziel für Gäste aus dem In- und Ausland ist. Künstlern wie Ferdinand Hodler, Cuno Amiet, Adolf Wölfli, Paul Klee oder der Surrealistin Meret Oppenheim kann man nirgends sonst so breit und dicht begegnen wie im Kunstmuseum respektive im Zentrum Paul Klee in Bern. Aber nicht nur die Stars der Kunstgeschichte machen eine markante Kunstsammlung aus. Auch die Art und Weise, wie sie mit Schlüsselwerken die Entwicklungslinien der Kunstgeschichte zu vergegenwärtigen weiss, macht sie besonders. Und zur Einmaligkeit einer Kunstsammlung zählt nicht zuletzt auch das Lokalkolorit, die Künstlerinnen und Künstler nämlich, die an einem Ort gewirkt haben und ihn in ihrem Werk spiegeln, ohne dadurch die Kunstgeschichte vorangebracht zu haben.

Der Festsaal im Kunstmuseum Bern mit Werken aus unserer Sammlung.

So wichtig eine Kunstsammlung auch ist, so sind es doch nur die ganz grossen Museen, die es sich erlauben können, sie dem Publikum immer gleich zu präsentieren. Keine einzige in der Schweiz gehört heute in diese Kategorie. Denn das Publikum will unterhalten werden. Oasen der Ruhe und Kontemplation, wo man seinem Lieblingsbild immer wieder am genau gleichen Ort in der genau gleichen Umgebung begegnen kann – sind heute verpönt. Kunstwerke, selbst die berühmtesten, müssen sich immer wieder in neuen Kontexten bewähren. Das ermöglicht im besten Falle neue Erkenntnisse. Dass das Publikum überrascht werden will, dass es das Bekannte neu sehen muss, zwingt die Museen, attraktive Wechselausstellungen zu veranstalten. Nie zuvor gab es ein grösseres Angebot an Wechselausstellungen, nie zuvor wurden so viele Kunstwerke auf Reisen geschickt.

Ferdinand Hodler, Der Auserwählte, 1893/1894 Tempera und Öl auf Leinwand, 219 x 296 cm. Gottfried Keller-Stiftung, Bundesamt für Kultur, Bern, Depositum im Kunstmuseum Bern.

Ein Hodler-Werk aus unserer Sammlung: Ferdinand Hodler, Der Auserwählte, 1893/1894, Tempera und Öl auf Leinwand, 219 x 296 cm. Gottfried Keller-Stiftung, Bundesamt für Kultur, Bern, Depositum im Kunstmuseum Bern.

Die Publikumserwartungen bestimmen die Kunstmuseen, denn diese werden an Besucherzahlen gemessen. Wechselausstellungen verbuchen achtzig bis neunzig Prozent der Jahreseintritte. Ohne Wechselausstellungen wären die Schweizer Museen leer und tot. Wir wollen das nicht beklagen, sondern als Chance auffassen. Wechselausstellungen, die nicht bloss unterhalten, sind immer ein Gewinn. Sie generieren neue Erkenntnisse, erweitern die Kunstgeschichte, stellen Fragen, die den Gesellschaftsdiskurs beleben und bereichern. – Aber diese Situation schafft auch Probleme, wie in den ersten paar Monaten 2016 im Kunstmuseum Bern. Tatsache ist, dass in diesem Zeitraum der Grossteil der Museumsfläche von Wechselausstellungen beansprucht sein wird. Wie bereits 2005 werden wir in diesem Zeitraum einen Überblick über die immense Sammlung an chinesischer Gegenwartskunst von Rita und Uli Sigg zeigen können. Wir waren 2005 die ersten, die die Sammlung Sigg in ihrer unglaublichen Fülle in einer Ausstellung präsentieren durften, und wir sind auch die letzten, denen dies in der westlichen Welt möglich sein wird, bevor die Kunstwerke an ihren neuen Standort in Hongkong abreisen werden. Und wie schon 2005 werden wir die Sammlungsfläche zugunsten der chinesischen Gegenwartskunst mit ihren zum Teil enorm Platz beanspruchenden Installationen stark reduzieren. Die Abschiedsvorstellung der Sammlung Sigg wird noch umfassender sein als ihre Premiere, was in Bern möglich wird durch das Zusammengehen von Kunstmuseum und Zentrum Paul Klee. Was wir beide für die Sammlung bieten sprengt das Volumen einer Wechselausstellung – was wir unseren Gästen präsentieren können, hat den Rang einer über verschiedene Standorte verteilten Biennale.

Das Kunstmuseum platzt räumlich aus allen Nähten. Seit der Eröffnung des Atelier-5-Baus in den frühen 1980er Jahren hat sich die Sammlung bei gleich bleibender Fläche um mehrere tausend Neueingänge vermehrt. Mit der zeitbedingten Konzentration der Museumsaktivitäten auf den Wechselausstellungsbetrieb hat sich die Situation der Sammlungen überall in der Schweizer Museumszene verschlechtert. Diesem Trend wird bei den grossen Häusern in Lugano, Basel, Zürich, Lausanne, Genf, Chur mit Neu- und Erweiterungsbauten Rechnung getragen. Es ist deshalb von zentraler Bedeutung, dass das Kunstmuseum sein Erweiterungsprojekt Inhouse so schnell wie möglich realisieren kann.

Blog_ChineseWhispers-Sammlung

Werk aus der M+ Sigg Collection: Li Tianbing, Ensemble # 1 + 2, 2008, Öl auf Leinwand / Oil on canvas 2 Tafeln / 2 panels, 200 x 400 cm. © the artist. M+ Sigg Collection, Hong Kong. By donation

Doch bevor der Wechselausstellungsbetrieb ohne die Sammlungsflächen zu tangieren, betrieben werden kann, sind wir im Kunstmuseum Bern auf Kompromisse und Zugeständnisse angewiesen. Vor und während der Ausstellung Chinese Whispers. Neue Kunst aus den Sigg und M+ Sigg Collections sind wir gezwungen, die Sammlung auf eine limitierte Best-off-Präsentation zu komprimieren. Wir glauben diese Situation vor dem Publikum verantworten zu können, und zwar aus folgenden Gründen: Zum einen ist Chinese Whispers ein absolutes Ausnahmeprojekt, das ohne das Zugeständnis nicht zu haben gewesen wäre; zum anderen warten wir anschliessend mit einer Reihe von Sonderprojekten der Sammlung auf. Im Frühling eröffnen wir die thematische Sammlungsausstellung Moderne Meister. „Entartete“ Kunst im Kunstmuseum Bern, die die eigenen Erwerbungen der Jahre 1933 bis 1945 sowie auch diejenigen der fraglichen Künstler unserer Stiftungspartner vorstellt. Es geht dabei um die Situation der von den Nationalsozialisten verfolgten Moderne, sowie auch um die Provenienz der betreffenden Erwerbungen. Eine weitere Wechselausstellung wird ausschliesslich Werken der Sammlung vorbehalten sein, nämlich die Schau Berns verlorener Altar. Niklaus Manuel und die Tafeln der Predigerkirche zu Bern. Ebenfalls im Spätsommer präsentieren wir in einer speziellen Präsentation die 180 Meisterwerke, die wir in einem umfangreichen neuen Sammlungskatalog wissenschaftlich fundiert aufgearbeitet haben werden. Trotz der Schmalspursituation bis zum Frühling wird 2016 doch zu einem Jahr der Sammlung werden. Dazu gehört auch eine Veranstaltungsreihe in der zweiten Jahreshälfte, die wir dem Stellenwert der Sammlung in der aktuellen Museumszene widmen werden.

Im Namen des Kunstmuseum Bern wünsche ich Ihnen einen guten Rutsch und ein frohes neues Jahr.

Veröffentlicht unter Allgemein, Blick hinter die Kulissen
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Autor

Matthias Frehner

Seit 2002 Direktor des Kunstmuseum Bern, davor 1996 - 2002 Kunstredaktor der Neuen Zürcher Zeitung und von 1988 - 1996 Konservator der Sammlung Oskar Reinhart «Am Römerholz» in Winterthur.

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