Publiziert am 9. Oktober 2018 von République Géniale

«Wir arbeiten im Namen der Opfer». Interview mit Eyal Weizman von Forensic Architecture

«Wir arbeiten im Namen der Opfer». Interview von Maik Novotny mit Eyal Weizman von Forensic Architecture

 

Der forensische Architekt Eyal Weizman sucht für seine Arbeit Krisenherde auf und untersucht Kriegsschauplätze wie ein Detektiv. Wie rekonstruiert man ein syrisches Foltergefängnis, zu dem niemand Zugang hat? Wie findet man Zeit und Ort eines Raketeneinschlags in Gaza heraus, wenn man nur Handyvideos und Fotos hat, die meisten davon falsch datiert? Wie findet man heraus, ob der Mann vom Verfassungsschutz den NSU-Mord am 6. April 2006 in Kassel wirklich nicht bemerkt hat, obwohl er im Nachbarzimmer saß? Die Antwort: mit architektonischen Mitteln. Das Finden von Beweisen durch penibelste geografische Analysen, digitale Modelle und im Maßstab 1:1 nachgebaute Räume ist das Fachgebiet des am Londoner Goldsmiths College ansässigen Büros Forensic Architecture. Gegründet wurde es vom Architekten Eyal Weizman, die so faszinierenden wie erschütternden Analysen von Verbrechen wurden unter anderem auf der Architekturbiennale Venedig 2016 gezeigt. Beim Forum Alpbach hielt Eyal Weizman am Donnerstag die Keynote zu den Baukulturgesprächen. Im STANDARD-Interview erzählt er von der Pathologie der Architektur.

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77sqm_9:26min : The Murder of Halit Yozgat in Kassel, Germany, 6 April 2006 (2017), Video, 28:54 Min., Copyright Forensic Architecture.

Maik Novotny: Herr Weizman, können Sie nach der Arbeit ruhig schlafen?
Eyal Weizman: Ich schlafe eigentlich sehr gut. Vielleicht hilft mir das, Gedanken zu verarbeiten, die mich sonst ablenken würden.

Warum sucht man sich Kriege und Krisenherde als Tätigkeitsfeld für Architektur aus?
Ich bin in Israel aufgewachsen, war dort bei der Armee. Krieg und Konflikt sind dort immer präsent. Später habe ich mit Menschenrechtsorganisationen in Palästina israelische Siedlungen analysiert. Wir stellten fest: Kriegsverbrechen werden nicht nur von Generälen und Politikern begangen, sondern auch von Architekten durch das Ziehen einer Linie am Zeichentisch. Wer dort ein neues Wohngebiet entwirft, plant nicht nur Häuser, sondern oft wird dadurch auch ein palästinensisches Siedlungsgebiet entzweigeteilt und der Lebensraum der Bewohner verkleinert, mit dem Ziel, sie ganz zu vertreiben.

2011 gründeten Sie das Büro Forensic Architecture. Wie kann man sich die Arbeit dort vorstellen?
Wir sind wie ein Detektivbüro. Man weiß nie, wer als Nächstes durch die Tür kommt. Schöne Fälle sind es nie, es ist ein Katalog des Horrors. Ein forensischer Architekt ist ein Pathologe der Gebäude. Nur gibt es oft keine Leiche. Manchmal durchsieben wir den Schutt, aber oft – zum Beispiel in Syrien – können wir nicht direkt vor Ort sein und benutzen Medien als archäologisches Werkzeug.

Was genau ist daran das Architektonische?
Es geht weniger um das Technische, sondern darum, die richtigen Fragen zu stellen. Ein Beispiel: Wir hatten hunderte Bilder und Videos eines Raketeneinschlags in Gaza, bei dem Zivilisten gestorben waren. Es war aber fast unmöglich, sie exakt zeitlich und räumlich zu verorten. Nach Monaten wurde uns klar: Auf allen Bildern waren dieselben Rauchwolken zu sehen, die sich permanent verändern. Der Himmel ist sozusagen voller Uhren. Um die exakte Position der Wolken zu bestimmen, benutzten wir Techniken, die schon die Maler der Renaissance kannten. Die Information auf Bildern ist wie tausende winzige Scherben, die man zusammenfügen muss wie ein zerbrochenes antikes Tongefäß. Die Archäologie des digitalen Zeitalters.

Welche Klienten beauftragen Sie für Ihre architektonische Detektivarbeit?
Vor allem NGOs. Das heißt auch, dass wir einen Teil unserer Arbeit ehrenamtlich machen. Wir bekommen auch Anfragen von Staaten, die wir aber immer ablehnen. Wir arbeiten nur im Namen der Opfer.

Was motiviert Sie bei Ihrer Arbeit? Die Wahrheit? Die Gerechtigkeit?
Die Wahrheit ist ein Schlachtfeld, sie wird als Waffe missbraucht. Der Staat dominiert die Information auf dem Schlachtfeld, und diese Information greift in Menschenrechte ein. Meine Motivation ist der Schutz von Zivilisten. Wir tun, was wir können, aber es ist nicht viel.

Sie bezeichnen Ihre Arbeit als Counterforensics. Was ist darunter zu verstehen?
Früher war die Forensik die Arbeitsmethode der Polizei, um die Bürger zu kontrollieren und zu katalogisieren. Es galt: Der Staat muss mehr wissen als der Kriminelle. Auch heute hat der Staat das Informationsmonopol. Das heißt, wir müssen Lücken finden, um dieses Monopol zu brechen. Wir haben vielleicht weniger Daten, aber wir können unsere architektonische, künstlerische und theoretische Sensibilität einsetzen. Wir nennen das investigative Ästhetik.

Apropos Ästhetik: Ihre auf der Architekturbiennale Venedig 2016 gezeigte Rekonstruktion des Raketeneinschlags in ein Wohnhaus in Pakistan ist auf den ersten Blick beinahe schön, bevor man als Betrachter realisiert, worum es geht.
Ästhetik hat für mich nichts mit Schönheit zu tun, sondern mit Wahrnehmung. Es geht mir nicht darum, dass etwas gut aussieht. Außerdem ist Ästhetik ein gefährlicher Begriff, die Leute denken dann, dass man sie manipuliert. Vor wenigen Tagen hat uns der deutsche CDU-Politiker Holger Bellino vorgeworfen, unsere Recherche wäre nur ein Kunstwerk von der Documenta. Aber das Risiko gehen wir ein. Wenn das Beweisstück ein Bild ist, arbeiten wir mit Leuten zusammen, die sich mit Bildbedeutungen auskennen.

Im Zuge des Prozesses um die rechtsextremen NSU-Morde in Deutschland haben Sie einen Tatort im Maßstab 1:1 nachgebaut, um die Aussage eines V-Manns zu überprüfen.
Die Polizei hat weniger gemacht als wir, sie hat den Fall völlig verbockt und wird von manchen Politikern heute noch in Schutz genommen. Mit reinen Fakten kommen wir dagegen gar nicht mehr an. Dass das in Deutschland passiert, einem Land, das mir sehr wichtig ist, erschreckt mich wirklich. Meine Frau ist Deutsche, meine Eltern wurden in Deutschland geboren. Und ich sehe, dass die Wahrheit dort heute weniger gilt, dass die Politik mit Fake-News-Argumenten operiert. Ein ebenso bedrückendes Deutschland-Erlebnis: Letztes Jahr sollte ich in Karlsruhe den Schellingpreis für Architekturtheorie bekommen. Aber der Architekt Erich Schelling, nach dem der Preis benannt ist, war früher bei der SA und baute koloniale Projekte in der NS-Zeit. Ich halte das für eine Schande. Also habe ich den Preis abgelehnt. Die Jury hat das übrigens nicht publiziert.

Eine typische Abschlussfrage an Architekten lautet: Welches Gebäude würden Sie gerne bauen? Wenn man Sie fragt, in welchem Krisenherd Sie gerne noch tätig werden würden, klingt das eher unangemessen.
Ich würde es vorziehen, wenn meine Arbeit nicht gebraucht würde. Ich wäre lieber arbeitslos oder würde wieder als normaler Architekt arbeiten. Aber wir werden alle in unsere Zeit hineingeboren, und heute ist meine Arbeit leider wichtig. Aber es gibt ein Gebäude, das ich gerne planen würde. Wissen Sie, das Wort Forensik kommt von “Forum”. Und für die Arbeit der Menschenrechte gibt es kein Forum. Ich träume davon, ein solches Forum zu bauen. Eine Architektur als Verstärker für die Debatte um die Wahrheit. (2.9.2017)

Eyal Weizman, geboren 1970 in Israel, ist Architekt, Professor für Spatial and Visual Cultures und Direktor des Centre for Research Architecture am Goldsmiths College der University of London. Seit 2011 leitet er das Projekt Forensic Architecture. Er ist Autor mehrerer Bücher, zuletzt Forensic Architecture: Violence at the Threshold of Detectability.

Das Interview wurde zum ersten Mal in der Wiener Tageszeitung Der Standard, am 3. September 2017 publiziert. Es ist hier leicht gekürzt mit der freundlichen Erlaubnis des Verfassers publiziert.

Der Videofilm 77sqm_9:26min wird vom 30.10. – 11.11. in der République Géniale Ausstellung gezeigt.

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République Géniale

Anhand dieser Blogartikel, Interviews und Videos von und mit den Beteiligten wird fortlaufend dokumentiert und reflektiert, was in der «République Géniale» stattfindet.

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