Publiziert am 22. Januar 2016 von Margret Keller-Budliger

Ricco Wassmer. Verschlüsselte Bilder als Botschaften (Teil 2)

Im dem zur Ausstellung im Kunstmuseum Bern erschienenen Catalogue raisonné der Gemälde und Objekte von Ricco Wassmer ist eine Auswahl von Quellentexten abgedruckt. Drei ergänzende Essays jüngeren Datums zeigen, wie Ansätze aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln Wege zu neuen Fragestellungen ebnen. So nimmt die Psychologin und Eidetikerin Margret Keller-Budliger einen eigenständigen Standpunkt ein. Stellvertretend für die fast 60 zwischen 2012 und 2015 aus eigener Initiative ausgeführten Bildanalysen wird hier eines der drei publizierten Beispiele vorgestellt, in denen sie «Erlebtes und zumeist gleichzeitig schwierig zu Entzifferndes versuchsweise Gestalt werden lässt». Auf der Grundlage von Messungen und geometrischen Zeichnungen zur Klärung der Strukturen erkennt sie intuitive Anschauungsbilder. Dazu sagt sie: «In Ricco Wassmers Werken zeigt sich ein bewegtes Leben, das sich bis heute in einprägsamen Bildern auszudrücken wagt: Der Künstler zeichnet mit malender Hand das Schicksal eines Menschen inmitten seiner angestammten Familie, der ihn aufnehmenden Gesellschaft und seinen Freunden. Zu Letzterem gehört ein getreues Hündchen. Doch gewährt ein Bild auch auf der gleichen Hand liegende Einsichten?»

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Ricco Wassmer, La roue, 1957, Privatbesitz, Schweiz. Copyright Ruedi A. Wassmer

La roue, 1957. Noch fast gar ein Kind – oder doch ein junger Mann?

Aufrecht steht er da, bereit zum Aufbruch und sommerlich gekleidet für einen heissen Tag. Dem Betrachter des Bildes zeigt er klar, wie fest entschlossen er alles Angestammte, auch Vertrautes, hinter sich lassen will. Die eng zusammengebaute, mittelalterlich sich gebende Stadt, sein Elternhaus samt Hund, wenige Kameraden. Mag auch der Himmel sich darüber wölben und an seinem Saum die ersten Lichtschimmer nach kühl erlebter Nacht erscheinen lassen – diese Welt liegt fortan in seinem Rücken. Siegesgewiss hält der Junge seinen aus dem Kinderkram geretteten einzigen Schatz in die Höhe. Zwar ist es nur ein Rad, ein armselig altes Rad. Das ficht ihn nicht an. Es ist ihm lieb, wie sonst nichts auf dieser Welt. Es stört ihn auch nicht, wenn er mit angespannt blickenden Augen durch die Speichen wie durch Gitterstäbe von einem Gefängnisfenster nach draussen blicken muss. Erwartet er doch etwas, wofür er noch keine Worte findet.

Eine Erinnerung allerdings bleibt hartnäckig an ihm haften, und ich meine, ihn sagen zu hören: «Als ich noch Messdiener [Selbstbildnis als Mönch, G 1946.08; Blumen vor Selbstportrait, G 1946.09] war, ein weisses Spitzenkleidchen getragen habe mit rotem Samtumhang und stets lang’ hab’ stehen müssen. Engelgleich die Hände faltend. Jetzt entsinne ich mich auch an das Wort ‹Wandlung›. Aus unerklärlichen Gründen tauchte vor mir eine graue Betonwand auf. Ohne zu verstehen, warum der Priester im gleichen Moment den jetzt durchsichtig gewordenen ‹Fünfliber› in die Höhe halten musste. Über alle gesenkten Köpfe hinweg. Aber gefallen hat es mir trotzdem. Es war alles so geheimnisvoll. Doch um wie viel lieber halte ich nun selber ein Rad in die Höhe, grösser und glänzender als jeder Fünfliber. Bin mein eigener Priester und Lateinlehrer zugleich! Die ‹initiatio› fühlt sich nicht wie eine ‹Wand›, sondern wie ein von warmem Blut durchpulstes Fleisch an. Aber oft, in peinigenden Albträumen, schneidet mir das Metall von Radspeichen so tief ins eigene Fleisch – ich erwache voller Angst, als hätte man mir beide Hände abgehackt. Als bestrafe man mich! Als hätte ich etwas Verbotenes getan! Ein bisschen mit dem Ellbogen habe ich wohl ganz im Geheimen gegen ewig kaltherzige Autoritäten kämpfen müssen. Jetzt aber halte ich mein Sonnen-, mein Schicksals- und Lebensrad so fest, dass es zu zittern beginnt. Wie ich selber zittere vor lauter Lust und Wonne. Dennoch bin ich besorgt, es möge weder gegen mich, noch auf den Boden fallen. Den Boden? Ich spüre nur noch, wie mich etwas magnetisch immer tiefer hinabzieht. Richtung Erdmittelpunkt, und wie mich dieser einsaugen will. So schwer die Beine! Ganz schwer die Füsse … weit weg von mir, von der Sonne, vom Himmel. Und bin trotzdem gewiss, auf den einmaligen Sommertag und sein Geheimnis zuzugehen!»

Ricco hat es nicht unterlassen, diesem Thema mit dem Bild Die Reklame [G 1958.14], eine Fortsetzung zu widmen. Der junge Mann, wieder braun gebrannt von der Sonne im leichten Tenue, sitzt jetzt auf dem blitzblanken Sportvelo. Er ist voll freudiger Unruhe, prüft nochmals sein Gleichgewicht, bevor er losprescht, hinaus in die Welt und hinein ins Abenteuer.

Mehr „verschlüsselte“ Werke von Ricco Wassmer sind in der Ausstellung «Ricco Wassmer 1915-1972. Zum 100. Geburtstag» zu sehen. Sie ist noch bis am 13.03.2016 geöffnet.

Veröffentlicht unter Allgemein, Experten am Werk
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Autor

Margret Keller-Budliger

Margret Keller-Budliger (* 1929), Psychologin, studierte 1978–1986 an der Universität Bern als Gasthörerin Kunstgeschichte und Philosophie. Aus eigener Initiative hat sie zwischen 2012 und 2015 fast 60 Bildanalysen von Werken Ricco Wassmers gemacht.

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