Publiziert am 20. August 2015 von Simon Oberholzer

Mit Toulouse-Lautrecs Blick im Nacken

Immer noch liegen auf meinem grossen Arbeitstisch all die vielen Photographien. Alle in Schwarzweiss, alle leicht schummrig mit der Patina des ausgehenden 19. Jahrhunderts, und aus allen blickt mir ein blasser junger Mann mit grossen schwarzen Augen entgegen: Toulouse-Lautrec. Immer derselbe melancholische Gesichtsausdruck, ein ruhiger Blick, ein selbstsicherer Blick – ein Mensch, der in sich ruht. Ich schaue genauer auf diese Photographien und erkenne einen Mann, an dessen zu kurzen Beinen sich die Hose bis zu den Knien hoch faltet. Ich sehe ein Gesicht, in dem sich wulstige Lippen unter einem spärlichen Schnurrbart hervorschieben und einen zu grossen Kopf, auf dem ein kleiner Hut thront. Ich sehe eine zwergenhafte Figur, deren leicht schräger, schwerfälliger Gang einen Stock zur Fortbewegung notwendig macht.

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Rechts: Paul Sescau, Toulouse-Lautrec stehend mit Spazierstock, 1894. Neuabzug von einem Glasnegativ, Albi, Musée Toulouse-Lautrec. © Musée Toulouse-Lautrec, Albi – Tarn – France.
Links: Unbekannter Photograph (Alfred Athis?), Toulouse-Lautrecs Gesicht, um 1897. Neuabzug von einem Glasnegativ, Albi, Musée Toulouse-Lautrec. © Musée Toulouse-Lautrec, Albi – Tarn – France.

Ich blättere weitere Photographien durch, die auf einem Stapel vor mir liegen: Hier Lautrec, wie er von einem Kollegen über lächerlich untiefes Wasser getragen wird, dort Lautrec, wie er nackt mit einer Weinflasche in der Hand auf einem Segelboot in die Kamera lacht, und hier wiederum Lautrec mit heruntergelassener Hose bei der Toilette im Freien oder beim Malen im Atelier. Ich beobachte ihn bei Zusammenkünften mit Freunden in einem Café, mit seiner Mutter im familiären Schlossgarten, mit seiner Geliebten, seinem nackten Modell, seinen Studienkollegen, beim Schlafen, Lesen, Schwimmen, Trinken und vielem mehr. Lautrec, überall Lautrec, meist alleine, meist von Nahem. – Seltsam, so kommt es mir vor: Dieser eigenartige Mensch, der sich als hässlichen Krüppel verstand, lässt sich scheinbar gerne photographieren. Ja, mehr noch: Er scheint es geradezu zu geniessen, sich vor der Kamera zu bewegen. Er posiert, ohne sich zu verstellen, ohne seine körperlichen Abnormalitäten zu verstecken, ohne sich seiner Nacktheit, Trinkerei, Schreierei, Lacherei in irgendeiner Weise zu schämen. Ich staple all diese Bilder aufeinander, will sie aus meinem Blick entfernen, verstaue sie in einer Kiste für den Transport in die Ausstellungsräume. Und doch muss ich immer wieder an sie denken, und eine Frage geht mir nicht aus dem Kopf: Warum hatte Toulouse-Lautrec ein derartiges Interesse an Photographien seiner selbst – seines Alltages, seiner Person, seinem Körper, seiner Kleidung, seiner Entourage und seiner Arbeit?

Erste dieser Photographien haben wir heute in die Ausstellungsräume gebracht. Nun blickt dieser Mensch uns vielfach von den Wänden entgegen. Daneben stehen die Kisten mit seinen Gemälden, die Mappen mit seinen Druckgraphiken, die Rahmen mit seinen grossen Plakaten. Nach und nach öffnen unsere Ausstellungstechniker und Restauratorinnen diese Hüllen, und Werke kommen zum Vorschein, die ich mir gerne anschaue – aber ich kann sie nicht mehr anschauen, ohne an die Kiste mit den Photographien zu denken, ohne mich an die Augen des Portraitierten zu erinnern, ohne mich an die photographisch vermittelte Person Lautrecs und deren Leben zu entsinnen: wie er seinen Exzessen frönte, wie er als Behinderter und Gebrechlicher genötigt war, das Leben um sich zu versammeln; wie er als lüsterner Gast wochenlang die Bordelle besuchte, und wie er seine Freunde um sich scharte. Beim Gang durch die Räume überkommt mich immer wieder ein eigenartiger Gedanke: Vielleicht gibt es Kunstwerke, die wir heute nicht mehr betrachten können, ohne an die Biographie und Person ihres Erschaffers zu denken? Vielleicht ist dieses inszenierte und dokumentierte Leben des Künstlers heute prägnanter in unserem Gedächtnis, als die Kunst selbst? Vielleicht sind die Photographien für uns eine Anleitung zur richtigen Betrachtung von Kunst geworden, zum Schlüssel und zur Theorie von Malerei, zur posthumen Leitung des Blicks von uns Kunstbetrachtenden?

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Maurice Guibert, Lautrec nackt auf einem Segelboot, um 1899. Neuabzug von einem Glasnegativ, Albi, Musée Toulouse-Lautrec. © Musée Toulouse-Lautrec, Albi – Tarn – France

Mit dem Blick von Lautrec im Nacken streife ich durch die Räume. Wie ein Übervater, Türhüter oder Geist spüre ich seine Augen auf mir. Und ich ertappe mich dabei, dass mir seine Kunst nun plötzlich besonders authentisch erscheint – ja, mehr noch: wie ein unmittelbarer Abdruck seines durch die Photographien vermittelten Lebens anmutet: Die Prostituierten sind von einem Manne gemalt, der sie in und auswendig kannte; die Aussenseiterfiguren von einem Menschen geschaffen, der selbst ein Verstossener war; die Trinker in den nächtlichen Bars von einem Künstler gemalt, der mit Alkohol sein kurzes Leben zu Ende brachte. Doch ist dies die meine Leseweise der Gemälde, oder hat mich der Blick von Lautrec aus den Photographien zu dieser Interpretation seiner Kunst gedrängt? Habe ich mein autonomes und „unschuldiges“ Auge verloren, und werde ich von den Photographien von Lautrec instrumentalisiert, beherrscht, im Akt der Bildrezeption geleitet und konditioniert wie eine Puppe an Fäden des längst verstorbenen Künstlers?

Etwas verwirrt kehre ich zurück in mein Büro und verstehe, dass wir diese Photographien von Lautrec kritisch ansehen und auf ihre Intentionen sowie Funktionen hin befragen müssen. Sind es wirklich nur lustige Schnappschüsse oder steckt nicht womöglich viel mehr dahinter? Vielleicht so etwas wie eine höchst moderne künstlerische Strategie? Gewiss scheint mir nach meinem Gang durch die Räume zu sein, dass wir uns den Photographien von Lautrec kaum entziehen können. Und haben wir sie einmal gesehen, besitzen wir konstruierte Informationen über den Künstler, die wir beim Blick auf seine Kunst abrufen – ob wir wollen oder nicht. Mein Lieber, sage ich mir: Du siehst halt eben doch nur, was du schon weisst. Und bei Lautrec sind es diese Photographien, die darüber bestimmen und uns einflössen, was wir über seine Malerei zu wissen haben – und übrigens auch: was nicht.

Meine Schachtel mit den Photographien wird in den nächsten Tagen mehr und mehr ausgepackt werden. Nicht nur die, sondern auch die Photoalben, die in den Vitrinen liegen werden, und die ich gar nicht erst durchblättere, denn auch darin wären wieder dieselben Photographien mit demselben Gesicht zu finden. Sicher scheint mir eines zu sein: Diese alten Lichtbilder sind ein sehr machtvolles Werkzeug des Künstlers, mit dem er die Rezeption seiner Kunst bis heute zu steuern und auf seine Person rückzubinden vermag. Wegen diesen Photographien, so fürchte ich, kann ich mir nie mehr ein Gemälde von Lautrec anschauen, ohne dass ich dabei an seine grossen dunklen Augen denken muss, die mir seine Person und deren Leben schlagartig ins Bewusstsein schiessen lassen. Dieser Mechanismus funktioniert fast wie ein Zwangsgedanke – ich kann nicht anders, als Lautrec hinter seinen Gemälden zu sehen. Der Mensch – oder sagen wir: das Labeling – Lautrec bestimmt und kontrolliert so auch die heutige Rezeption und den gegenwärtigen Umgang mit seiner Kunst. Nach dem Blick auf diese Photographien wird wohl niemand behaupten können, Lautrec sei ein Langweiler, ein typischer Aristokrat, ein konventioneller Mensch, ein Künstler gewesen, der seine Themen nicht aus seinem Leben zu schöpften wusste – auch wenn er dies in Wahrheit vielleicht gar nicht tat. Und hier wird nun auch klar, warum der Künstler selbst nie eine Kamera besessen hat: Lautrec wollte nicht photographieren. Er wollte photographiert werden. Und so kennen wir heute all die vielen schönen Photographien von ihm, die so harmlos wohl doch nicht sind. Sie lenken noch immer den Blick von uns Kunstbetrachtenden. Und sie ziehen uns in den Sog von Lautrecs Kunst.

Die Ausstellung «Toulouse-Lautrec und die Photographie» eröffnet am Donnerstag, 27. August.

Veröffentlicht unter Allgemein, Blick hinter die Kulissen
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Autor

Simon Oberholzer

Simon Oberholzer ist promovierter Kunsthistoriker. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kunstmuseum Bern. Zuvor arbeitete er in der Galerie Kornfeld (2013-2015) und an der Universität Bern (2010-2013).

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