Louise Guerra Archive – Archiv und Narrativ
Erlebnisbericht von Chantal Küng und Kathrin Siegrist, LGA
«Mit 17 hatte Louise ihre erste Reise unternommen: sie war von zu Hause ausgerissen, in die Schweiz gefahren und über den Sankt Gotthard-Pass gewandert. Mit zwanzig hatten es ihr asiatische Schriften angetan und sie beschloss, Sprachen zu studieren (unter anderem Sanskrit und Chinesisch). Als sie 1891 Geld erbte, bereiste sie eineinhalb Jahre lang Indien. Danach kehrte sie nach Paris zurück. Nach Abschluss ihrer Ausbildung erhielt sie ein Engagement als Sopranistin in Indochina. Anschliessend ging sie als Theaterleiterin nach Tunis.»
-Louise Guerra, Chapter 12, ANTIBIOGRAFI (Performancescript)
«Zwei Jahre lang studierte ich Englisch, als ich als Hilfskraft bei der Coca Cola Co. von Los Angeles arbeitete. Später studierte ich Ökonomie an der U.C.L.A. und verdiente meinen Unterhalt durch allerhand Jobs (Nachtwächter, Hilfskellner, usw… schliesslich wissenschaftlicher Assistent). Ich brach mit dem Kommunismus, als Tito aus der Kominform ausgeschlossen wurde. Seitdem habe ich mich auf keine politische Aktivität mehr eingelassen. Gandhi. Ich heiratete Mary. Drei Jahre später wurden wir geschieden. (…)»
-Robert Filliou, Teaching and Learning as Performing Arts, 1970. S.8
In der Arbeit «ANTIBIOGRAFI» vermischt Louise Guerra verschiedene Geschichten aus Leben von historischen Louisen, um auf die Paradoxie einer «Biografie» als lineare Erzählung, aus welcher Erklärungen für ein künstlerisches Werk eines Subjekts geschöpft werden, hinzuweisen. Die Lebensgeschichte von Robert Filliou, wie er sie in seinem Buch «Teaching and Learning as Performing Arts» kurz zusammenfasst, klingt spannenderweise ebenso collagiert wie diejenige Louises, obschon ihre fiktionalisiert ist. Doch genau diese Frage nach Fiktionalisierung und Geschichtsschreibung erscheint hierbei als zentral für eine Auseinandersetzung mit Louise Guerras Arbeiten. Wie können wir je bestimmen, welche «Biographie» nun mehr Fiktion enthält; diejenige Fillious oder diejenige Guerras? Und was bedeutet das eine oder andere für die Rezeption ihrer Werke? Wir behaupten; gar nichts, oder besser, wir messen das Potenzial von Louise Guerra und Robert Filliou an der Wirkkraft und Spannung, die eine Auseinandersetzung mit ihren Arbeiten postmortem (?) entfalten kann.
In diesem Sinne schliesst das Programm «FUTURESPECTIVES» an den Versuch an, die République Géniale von Robert Filliou entstehen zu lassen und als Idee zu befragen. Dabei ist das Louise Guerra Archive (LGA) als living archive gedacht, welches nicht nur aktiviert und rezipiert werden kann; es verändert und erweitert sich selbst in und mit diesen Befragungen, Reenactments und Weiterentwicklungen. Somit werden die Künstler*innen, Vermittler*innen, Kurator*innen und Archivar*innen, welche an den Fortschreibungen arbeiten, Teil des Archivs und der Geschichtsschreibung von Louise Guerra. Dies ist nicht neuartig; es bedeutet nur ein Umdenken, welches die Autorinnen*schaft und Beteiligung der verschiedenen Akteur*innen an der Produktion von Geschichte(n) thematisiert. Das LGA ist ebenso ein archive-as-artwork; das Archivieren wird zur künstlerischen Praxis, welche in ihrer Neuformulierung von Bedeutung, Bewertung, Struktur und Kohärenz das Archiv als ordnende und verordnende Institution befragt.
Das LGA wurde bereits in zwei Sessions aktiviert: Johannes Willi hat in einer «Freestyle Performance Session» das Ineinandergreifen territorialer Aspekte des Körperlichen aufgegriffen, indem er im Bärenkostüm das Archiv der Louise Guerra «verdaute». Hannah Horst thematisierte mit einer Teezeremonie, «DRESS AS LG LG AS A DRESS», die Gastfreundschaft sowie das gemeinsame Aufnehmen von Flüssigkeit und hat damit das Nachdenken über Kollektivität, Fluidität und Interdependenz – drei zentrale Themen Louises– angeregt. Wir freuen uns auf vier weitere Sessions!
Die weiteren Veranstaltungen des Louise Guerra Archive:
Sonntag, 16.09., 15h
Sonntag, 30.09., 15-16h
Dienstag, 23.10., 19-20h
Dienstag, 30.10., 13-16h
Dienstag, 30.10., 19-20h
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Schlagwörter: Ausstellungen, Erlebnisbericht, Event, Louise Guerra Archive, République Géniale, Zeitgenössische Kunst