Publiziert am 27. November 2015 von Marc-Joachim Wasmer

Kunst aus zweiter Hand. Ricco Wassmers Wunderkammer

Ricco Wassmer war nicht nur Maler. Er war auch ein passionierter Seemann und ebenso ein manischer Sammler. Er besass einen schier unerschöpflichen Fundus von Kunstwerken und Objekten. Dazu zählten Gemälde, Skulpturen und Grafiken, aber auch wissenschaftliche Illustrationen, Tapisserien, triviale Darstellungen, fremde und eigene Fotos, Musikdrucke, Buchstaben, Ziffern, Wappen und Signalflaggen. Sie dienten ihm als Vorlagen der Bildzitate in seinen Bildern. Dieselbe Aufgabe erfüllten Reproduktionen aus Büchern oder Postkarten, selten Originale. Nachgewiesen werden können Gemälde eines Berner Nelkenmeisters, von Benozzo Gozzoli, Antonio da Pollaiuolo, Piero della Francesca, Vittore Carpaccio, Leonardo da Vinci, Raffael, Albrecht Dürer, Lucas Cranach d. Ä., Hieronymus Bosch, Pieter und Jan Brueghel, Livio Agresti, Federico und Taddeo Zuccari, Caravaggio, Adam Elsheimer, Lorenz Strauch, Jean-Auguste-Dominique Ingres, Henri Rousseau, Pablo Picasso, Marc Chagall, Cuno Amiet, René Auberjonois, Alexandre Blanchet, Adolf Dietrich, von Marinemalern vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Plastiken eines spätgotischen Bildhauers, von Jean Tinguely und Niki de Saint-Phalle sowie kolorierte Darstellungen exotischer Vögel von François Nicolas Martinet in Georges Louis Leclerc de Buffons Lexikon L’Histoire naturelle des oiseaux, peints dans leurs aspects apparents et sensibles. Auf die Rolle von Fotografien wird weiter unten eingegangen.

Zu Riccos schöpferischer Auseinandersetzung mit fremden Vorlagen gehörte nicht nur die wörtliche Übernahme, sondern auch das Übernehmen von Kompositionsideen und die Verknüpfung von Bildzitaten verschiedener Herkunft beziehungsweise die Isolierung bestimmter Elemente. Gerne veränderte er die Grössenverhältnisse nach dem Muster der mittelalterlichen Bedeutungsperspektive. Ein postkartengrosses Sujet konnte als Blow-up zum Hauptmotiv vergrössert werden, sei es als Kulisse hinter der Figur oder zur Steigerung des illusionistischen Effekts als Bild im Bild, sei es als ein mit anderen Elementen inhaltlich und formal in Verbindung stehendes Zitat.

Viele Motive sind derart aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang genommen, dass die Bildquelle kaum noch zu identifizieren ist. Dazu gehört Karl Geisers David-Statue für die Stadt Schaffhausen. Wohl ab den frühen 1940er-Jahren hatte Ricco Kenntnis von den vielen Entwürfen, deren einprägsames Standmotiv mit dem stark angewinkelten rechten Bein auf einer Unterlage er als Pose seiner Modelle mehrmals aufnahm. Kurz vor seinem Tod erwarb er einen Bronzeguss, der wie ein künstlerisches Vermächtnis sein Grab im Dorffriedhof von Ropraz schmückt.

Ricco Wassmers Wunderkammer

Kunstwerke und Objekte aus Ricco Wassmers Wunderkammer, präsentiert in der Ausstellung «Ricco Wasmer 1915–1972). Zum 100. Geburtstag» im Kunstmuseum Bern. Foto und Copyright: Kunstmuseum Bern

Die Leidenschaft des Sammelns

Die Bildzitate widerspiegeln Riccos ausgeprägte Sammelleidenschaft. Getrieben von einem manischen Bedürfnis zu kaufen, was ihm gefiel, und seiner Begeisterung für Schönes und Bizarres häufte er schon als Jugendlicher Gegenstände, Bilder und Fotos an, mit denen er sein Zimmer dekorierte. Auch seine Ateliers und Künstlerhäuser waren bis ins kleinste Detail mit ausgesuchten Dingen besetzt. Wie Fotos der Interieurs zeigen, waren die Anwesen gewissermassen Environments, die laufend verändert wurden: Lebensraum, Musée sentimental, Bilderreservoir und Experimentierfeld in einem. Sie sind bedeutende Faktoren von Riccos künstlerischer Selbstverwirklichung. Eine ausführliche Dokumentation wäre eine gesonderte Darstellung wert. Die überschaubare Sammlung von Gegenständen, die er manchmal zufällig irgendwo aufgelesen oder auch für teures Geld erstanden hatte, machte er mehrmals zum Thema seiner Bilder selbst. Mit Vision 1935 (1935), Ricco sui ipsius (1942), den Gegenstücken Marché aux puces und Place du Midi (antiquités) (beide 1956) sowie in Explicativ (pour faire voir) (1956) und zuletzt in Widu Gallery (1969) gewährte er mehrmals Einblick in sein Universum der Dinge.

In seiner Wunderkammer herrschte keine Werthierarchie. Kostbares und Billiges wurden gleichwertig behandelt. Von einer Postkarte oder einer Wachsfigur, von Gebrauchs- oder Volkskunst liess er sich genauso inspirieren wie von Reproduktionen berühmter Meisterwerke. Voraussetzung war nur, dass sie in ihm einen Gedanken auslösten und einen Blick ins Reich der Fantasie öffneten. Die Gegenstände hatten für ihn eine tiefere Bedeutung und wurden in geheimnisvollen Konstellationen zusammengestellt. Das gefundene Material konnte verschiedenste Assoziationen auslösen.

Atelierwand im Château de Bompré

François Mignon, Atelierwand im Château de Bompré / Une parois de l’atelier au château de Bompré, 1963, Silbergelatineabzug / photographie argentique, Privatbesitz, Frankreich, Copyright: François Mignon

Alles fand im Ensemble seinen ihm gebührenden Platz. Unter diesen vielen Dingen gab es jedoch gewisse Objekte, die wie in den niederländischen Stillleben des 17. Jahrhunderts als Leitmotive in mehreren Bildern anzutreffen sind und einen tieferen, wohl autobiografischen Symbolgehalt haben. Ausgewählt wurden sie, weil sie einen bestimmten Erinnerungswert hatten oder unbewusste Assoziationen auslösen sollten: In den 1940er-Jahren gefangene und in Schaukästen aufbewahrte Falter und eine Vitrine mit Kolibris, Tierschädeln, Korallen und Meeresschnecken; in den 1950er-Jahren Fragmente einer Puppe, Gipshand, anatomisches Modell, Fahrrad, Rad, Uhrwerk, zeigerloses Zifferblatt, künstliche Rosen, Maschinen, Oldtimer, Gitarre, Figurine, Marionette, Schaufensterpuppe aus Wachs, Boxerfiguren, Porzellanhündchen, weisses Spielzeugpferd, Modelle alter Segler und schnittiger Jachten, ja, selber gebastelte moderne Kampfbomber aus Plastik; in den 1960er-Jahren Karussellpferde, Skelett und Harnisch.

 

Die Ausstellung «Ricco Wassmer 1915-1972. Zum 100. Geburtstag» wurde soeben eröffnet und läuft bis am 13.03.2016.

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Autor

Marc-Joachim Wasmer

Von 2008 bis 2015 hat Marc-Joachim Wasmer am Kunstmuseum Bern den Catalogue raisonné von Ricco Wassmer erarbeitet. Das Buch erscheint zur Eröffnung der Retrospektive. Seit 1999 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich.

Kommentare

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1 Kommentar

Rosita Della Morte
Dienstag, 12. Januar 2016, 22:41

Sehr geehrter Herr Wasmer,

Ein grosses Dankeschön für die Begeisterung mit der Sie uns am Sonntag durch die Ausstellung geführt haben. Die Begeisterung für das Hinschauen, das Sehen und Finden, das Vergleichen und Wiedererkennen hat sich wie ein Funken auf die Ausstellungsbesuchenden übertragen. Der Beweis: das grosse Stehvermögen des Publikums!
Auch von Ihren Recherchen zu hören war spannend.
Die Ausstellung im Untergeschoss passt. Sie führt immer tiefer hinein – in
Räume – in das Leben eines Suchenden und Einsamen.
Danke für das lehrreiche und spannende Museumserlebnis.