Glas schneiden. Do not cross – Performance von Sanja Latinović
Ein Bericht von Seraina Renz.
Ein starkes Bild, durchdringende Geräusche, die sich mit angespannter Stille ablösten, und die spürbare Konzentration der Künstlerin trafen auf den Wahrnehmungsapparat des Publikums während Sanja Latinovićs Performance Do not cross, durchgeführt am 28. Oktober 2018 in der République Géniale. Vor Beginn der Performance wurden die Betrachter und Betrachterinnen von einer Installation aus Metall, Holz und Glas empfangen. Zwei filigrane Metallgestelle trugen horizontal angeordnete Glasscheiben. Die äußeren Ränder waren in Holzfassungen befestigt, in der Mitte der Installation trafen sich die vom linken und rechten Gerüst getragenen Glasplatten. Da sie nur auf einer Seite fixiert waren und ansonsten lose auf den Metallbeinen auflagen, zeigten sich die Glasplatten von ihrer trügerisch elastischen Seite. Wie es angesichts einer größeren, Raum einnehmenden Glasfläche zu erwarten ist, befand sich an der Stirnseite der Installation eine Art Warnhinweis: Do not cross. Tatsächlich ließen die Metallgerüste einen Mittelgang frei, durch den man bequem hätte spazieren können, hätte nicht das Glas ungefähr auf Höhe eines Menschenhalses den Weg versperrt. Den Warnhinweis konnte man auf unterschiedliche Weise interpretieren: Vielleicht sollte damit Unfällen vorgebeugt werden, vielleicht untersagte er den Zutritt zu einem speziellen Raum.
Tatsächlich war dieser Raum innerhalb der Installation der Künstlerin allein vorbehalten, für die Dauer der Performance war es ihr Territorium, das Publikum musste und wünschte auch auf sicherer Distanz zu bleiben. Allerdings entstand zwischen ZuschauerInnen und Künstlerin eine starke sinnliche Verbindung, die den Realraum gewissermaßen in unterschiedliche Sphären – zu denken wie ein mittelalterliches Himmelsgewölbe – gliederte. In der innersten Sphäre operierte die Künstlerin, die Glocke darüber war der Erfahrungsraum, in dem das Publikum über die Sinne und die Imagination mit der Künstlerin verbunden war, die dritte Sphäre war das Außen, dort wo das Leben und die Zeit ihren gewohnten und gleichgültigen Gang nahmen. Diese gleichmäßig verstreichende Zeit war für die an der Performance Anwesenden zugunsten einer starken präsentischen Erfahrung – eine Art ausgedehnter Moment, ein längeres Stocken der Sekunden- und Minutenzeiger – außer Kraft gesetzt. Dies ist erstaunlich, war die Performance doch stark rhythmisiert.
Latinović tat in ihrer Performance das, was das Schild den anderen verbot: Sie passierte die Glasschranke. Sie tat dies, indem sie sich durch das Glas hindurchschnitt. Als Werkzeug diente ihr ein Seitenschneider, mit dem sie vorsichtig und stets eine Armlänge vor dem Körper, die in der Mitte der Installation aufeinander auftreffenden Glasscheiben aufknackte, bis Teile davon klirrend und zerspringend zu Boden fielen. Hatte sie ein Stück Weg freigelegt, das breit genug für sie war, bewegte sie sich langsam vorwärts, mit den Füßen die Scherben vor sich her und zur Seite schiebend. So entstand eine doppelte Passage: am Boden ein Weg im von Scherben und Splittern immer dichter bedeckten Boden, in der Luft ein gezackter, von scharfen Glaskanten und -spitzen gesäumter Korridor. Ihre Bewegungen waren langsam und konzentriert, manchmal schloss sie die Augen in dem Moment, wo das Glas unter dem Druck der Zange zu splittern begann, oft genug auch nicht. Fielen dann größere Teile zu Boden, um auf dem Lavastein zu zerbersten, stellte dies ein visuelles und ein akustisches Erlebnis dar, aber auch eine fast körperliche Empfindung. Ich fürchtete um ihre Hände und Augen, aber auch um meine und die der anderen BetrachterInnen. Das Glas kümmerte sich nicht um uns. Es fiel, und seine Teile flogen allein den Gesetzen der Physik gehorchend durch die Luft.
Was Kristine Stiles über Performance sagt, nämlich dass sie Präsentation und Repräsentation miteinander in ein kompliziertes Verhältnis stellt, wurde hier sehr deutlich. Einerseits war hier die Ebene des Präsenten, die als gedehnt empfundene, in der Intensität durch die sinnlichen Eindrücke gesteigerte Momenterfahrung: der Rhythmus der Bewegung des rechten Arms der Künstlerin, die mit der Zange eine Stelle am Glas aufsuchte, dann knirschen, knacken, splittern, bersten, zerspringen, aufprallen, klirren, Atem anhalten, Augen schließen, die räumliche Ausdehnung einer kleinen Glassplitterwolke, die behutsame Bewegung des Körpers an den spitzen Glasrändern vorbei. Andererseits standen Fragen im Raum, die über das unmittelbare Geschehen hinausgehen, eine existentielle aber auch historische Dimension aufweisen. Es geht um Zerbrechlichkeit: Das Glas zerbricht, gleichzeitig werden genau als Effekt davon die von den Scherben bedrohten Körper fragil. Wer bedroht hier wen? Der Mensch das Glas? Oder die unerbittlichen Gesetze der Natur den Menschen? Das Glas gehört in der Geschichte der Kunst gerade wegen seiner Zerbrechlichkeit zu den beliebten Vanitas-Symbolen, die den Menschen an seine eigene Vergänglichkeit erinnern sollen. Performance als Kunstform lässt die Frage offen, ob wir sie als eine reine wörtliche Handlung lesen, ob wir in den Werken Metaphern, Symbole, Metonymien erkennen wollen oder ob wir versuchen, mit der für sie charakteristischen Gleichzeitigkeit von Präsenz und Repräsentation kritisch umzugehen.
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