Publiziert am 28. Oktober 2016 von Rainer Lawicki

Geschichte und aktuelle Zeitereignisse in der Malerei von Cesare Lucchini

Auf den ersten Blick sind die Gemälde von Cesare Lucchini schnell zu erfassen. Die Bilder des Tessiner Künstlers sind ausgewogen komponiert und in ihrer Farbigkeit ansprechend – dies in besonderer Weise, weil von den späten Gemälden ein mediterranes Licht ausgeht. Wer sich jedoch in die Bildwelt von Lucchini eingesehen hat, erschaudert ein wenig und wird nachdenklich, denn die Gemälde handeln von den Menschen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Auf den Gemälden seit 2010 sind liegende Figuren zu erkennen, die sich zum Teil unter dichten Farbschleiern, wie hinter einem Vorhang befinden. Es sind schemenhafte Figurationen, die mehrdeutig bleiben und in dieser Offenheit dem Betrachter viel Freiheit in der Auslegung und dem persönlichen Zugang zum Thema des Bildes belassen. Lucchini erwähnt in einem Fernsehbeitrag dieses Jahres, dass seine Malerei nicht wie der Film oder der Roman eine Geschichte erzählt. Wenn ich die Werke seiner Ausstellung im Kunstmuseum Bern betrachte, dann scheint es mir, dass seine Gemälde etwas Zeitloses haben und ebenso die Einheit des Raumes aufbrechen oder verunklären. Damit bleibt die erzählerische Abfolge unberücksichtigt und der Kausalzusammenhang von Ursache und Wirkung wird ausgehebelt. Stattdessen wird eine Gleichzeitigkeit sichtbar: Einige seiner Gemälde behandeln zeitaktuelle Ereignisse und zudem schauen sie rückwärtsgewandt auf Themen der Kunstgeschichte. Davon soll im Folgenden etwas erzählt werden.

Zwischen 2008 und 2009 versuchten über 20‘000 Flüchtlinge aus Nordafrika über die italienische Insel Lampedusa nach Europa zu fliehen. Auf alten Kähnen und in überfüllten Schlauchbooten wagten und wagen die Flüchtlinge heute noch die gefährliche Überfahrt – die Medien waren und sind übervoll von den schockierenden Bildern. Für einen Künstler des 21. Jahrhunderts, der auf die Pressefotografie und Bildreportagen zurückgreifen kann, ist eine Visualisierung dieses Themas eine Herausforderung. Zudem ist offensichtlich, dass angesichts der Bildfülle in den Medien eine kommentierende Auslegung und Erklärung dringend notwendig ist. Die Fotografie, der Film und das Bild alleine sprechen nicht, erst die wörtliche und visuelle Vermittlung der Sinnzusammenhänge zeigt die historische Bedeutung der Ereignisse auf.

Die vermittelnde Aufgabe der geschichtswürdigen Ereignisse hatte im 19. Jahrhundert noch die Historienmalerei übernommen. Von der Fotografie wurde sie zurückgedrängt, war das authentische Zeitdokument, das für eine Augenzeugenschaft verbürgt, doch vertrauenswürdig. Vor und nach dem Aufkommen der Fotografie gab es jedoch herausragende Beispiele einer modernen Historienmalerei, die nicht die Glorifizierung oder Verehrung der geschichtlichen Helden oder Herrscher zeigen, sondern das Einzelschicksal näher bringen, die zentral im Kontext der nationalen und gesellschaftlichen Ereignisse stehen. Eine solche kunsthistorische Kette liesse sich von Francisco de Goyas Erschiessung der madrilenischen Patrioten (1814), Eugène Delacroix‘ Die Freiheit führt das Volk (1830), Eduard Manets Die Erschiessung Kaiser Maximilians von Mexiko (1868/69) über den Radierzyklus des Weberaufstandes (1897) von Käthe Kollwitz bis hin zu Pablo Picasso und seinem monumentalen Gemälde Guernica (1937) nachzeichnen, das die Bombardierung der baskischen Stadt im spanischen Bürgerkrieg aufgreift. In diesen Gemälden wird das Individuum hervorgehoben und in den Zusammenhang der gesellschaftlichen Ereignisse gestellt, die für eine grosse Bevölkerungsgruppe und die historische Bedeutung relevant sind. In diese Tradition des modernen Historienbildes passen sich die Werkserien Lucchinis seit 2007 ein, die von dem Kindersoldat, den afrikanischen Bürgerkriegen und den Bootsflüchtlingen handeln.

Cesare Lucchini, Quel che rimane – Lampedusa, 2010 Was bleibt – Lampedusa , Öl auf Leinwand. Besitz des Künstlers

Cesare Lucchini, Quel che rimane – Lampedusa, 2010
(Was bleibt – Lampedusa), Öl auf Leinwand. Besitz des Künstlers

Herausragend und in ungewöhnlicher Weise sprechend ist das grossformatige Gemälde Lucchinis Quel che rimane – Lampedusa (2010), weil der Künstler hier nicht nur empfindsam auf einen Grundkonflikt der Flüchtlinge eingeht – in einer Gruppe zu fliehen und auch andere Menschen sowie die Heimat zu verlassen –, sondern zudem mit einem kunsthistorischen Zitat eine inhaltliche Tiefe aufbaut, die emotional nachgeht. Bei genauer Betrachtung des Gemäldes fällt auf, dass die auf einer vermeintlichen Insel zurückbleibende Figur, von der sich ein mit wenigen Personen besetztes Boot entfernt, auf einer liegende Figur steht. Lucchini bezieht sich mit der Standfigur auf das berühmte Gemälde Die Toteninsel (1880) von Arnold Böcklin, ohne dieses Bild jedoch zu kopieren. Er greift die helle Figur im Boot vor der dunklen Toteninsel als wichtigen Stimmungsträger des Bildes von Böcklin heraus und setzt diese in einen neuen, mehrdeutigen Kontext. Die liegende Figur, auf der die zurückbleibende Person im Gemälde Lucchinis steht, wird gleichsam zur Toteninsel. Bereits in der Serie La caduta (Der Fall) hat Lucchini die zu Fall gekommene Figur thematisiert, sei es, indem diese unter einem Stacheldraht liegt oder vor einem Gebirge zurückbleibt, das in der Ferne wie ein unerreichbares Ziel sichtbar ist.

Quel che rimane – resti, 2009 Was bleibt – Überreste Öl auf Leinwand Besitz des Künstlers

Quel che rimane – resti, 2009 (Was bleibt – Überreste), Öl auf Leinwand. Besitz des Künstlers

Die Gemälde Lucchinis beziehen sich auf zeitaktuelle Ereignisse, die eine historische Dimension besitzen, indem er das Einzelschicksal des Individuums der Masse, den gesellschaftlichen und politischen Gruppenprozessen gegenüberstellt. Das ist ein subtiler Vorgang, weil die Empfindung gegenüber dem Ereignis, das Nachspüren und auch die Aufgebrachtheit, hineinspielen. Dennoch bleibt der Künstler im Hintergrund. Er lässt das Gemälde sprechen und dem Betrachter den Freiraum, das Bildereignis auf sich wirken zu lassen, eine eigene Interpretation und Standortsuche vorzunehmen. Die Gemälde erzählen nicht wie der Roman oder der Film eine Geschichte, aber sie beziehen sich auf Geschichte. Wenn in dem Gemälde Quel che rimane – resti (Was bleibt – Überreste) von 2010 ein Helikopter über eine amorphe Masse fliegt, die sich aus Pinselstrichen, Farbspritzern und wenigen Farben andeutet, dann werden die malerischen Gegensätze zwischen dem Realismus und der Abstraktion hervorgehoben, aber auch visuelle Erinnerungen. Lucchini erwähnt angesichts dieses Gemäldes eine filmische Assoziation: Die Eingangsszene mit der Helikopterstaffel in Apocalypse now (1979) von Henry Ford Coppola, welche in die Bombardierung eines vietnamesischen Dorfes mündet. Der Künstler greift wie im Beispiel Böcklins ein Element auf, das sich verselbständigt und als ein Schlüsselerlebnis wirken kann. Die Bildelemente sind gezielte visuelle Katalysatoren, die von gesellschaftlichen und politischen Grundkonflikten ausgehen, das Einzelindividuum in den Blick nehmen, um dann wieder auf das Grundproblem zurückzukommen: Das Ganze mit den Mitteln der Malerei.
Die Geschichte jedoch erzählt sich der Betrachter.

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Rainer Lawicki

Rainer Lawicki hat Kunstgeschichte, Philosophie und Literaturwissenschaft in Deutschland und der Schweiz studiert und an der Universität Freiburg im Breisgau promoviert. Seit 2015 ist er Kurator und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Kunstmuseum Bern, nachdem er zuvor am Zentrum Paul Klee in Bern gearbeitet hat. Zahlreiche Publikationen zur klassischen Moderne und Gegenwartskunst, sowie Ausstellungen.

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