Forschen und interpretieren
Die aktuelle Ausstellung «Bethan Huws: Reading Duchamp. Research Notes» ist eine künstlerische, kuratorische und museale Herausforderung, ein geistiges Abenteuer sowie ein vielschichtiges Denkgebäude. Seit 2007 hat Bethan Huws mehrere tausend Papierseiten mit ihren Forschungsnotizen zu Marcel Duchamp beschrieben. Rund 700 Blätter zu etwa 70 Werken von Marcel Duchamp wurden in ihrem Ausstellungsraum in Gruppen chronologisch an den Wänden arrangiert, während ca. 3‘000 Papierseiten zu allgemeinen Themen in Duchamps Schaffen, wie sein Verhältnis zu Schach, sein Umgang mit Zahlen, Farbe und christlichen Motiven u.a. auf Tischen in Ordnern ausliegen. Die Installation ist zugleich eine Rekonstruktion von Huws‘ Atelier in Berlin.
Wie die Künstlerin selbst kann man nun die Ordner durchblättern, die Skizzen betrachten, den Texten folgen und sich durch die Notizen hindurcharbeiten. Als Betrachter/in taucht man in ein geistiges Terrain voller Sprachwitz und Zahlenrätsel ein, das logisch stringent und assoziativ sprunghaft, philosophisch schlüssig und poetisch ausufernd Erkenntnisse aufbereitet: mithilfe handschriftlicher Notizen und Zeichnungen von Bethan Huws, kopierter Lexikonartikel, Bildvergleichen und fotografischen Selbstinszenierungen des Jahrhundertkünstlers Marcel Duchamp. Denn in diesem Jahr sind es hundert Jahre, seit Marcel Duchamp einen Flaschentrockner zum Kunstwerk erklärte – zur „sculpture already made“ – und damit das erste Readymade schuf. Duchamps kleine auktoriale Geste des Etwas-Anders-Nennen-Als-Es-Heisst, seine kontextuelle Verschiebung von einem alltäglichen Haushaltsgegenstand zum Kunstobjekt, hat die Kunst bis heute revolutioniert. Denn Duchamp erklärte den Flaschentrockner nicht zum Kunstwerk, weil er ihm besonders gefiel, sondern es ging ihm darum, ein möglichst unauffälliges Objekt zu wählen und es von seiner Funktion zu befreien. Die skandalöse „Umwandlung“ in Kunst sollte zum Denken über unser Kunstverständnis anregen.
Auch in einigen Word Vitrines – das heisst Schaukästen mit Textarbeiten, in denen die Künstlerin prägnante Sätze von Marcel Duchamp oder über Marcel Duchamp aufgeschrieben hat, hat sich Bethan Huws geäussert. Besonders markant bleibt dieser in Erinnerung: Et Duchamp? C’est un trou normand oder zu deutsch „Und Duchamp? Das ist ein normannisches Loch“. Wenn man „trou normand“ auf Englisch versteht, lautet die Übersetzung: „Und Duchamp? Das ist ein wahrer Normanne“. Marcel Duchamp wurde tatsächlich in der Normandie geboren und hat für Bethan Huws die Eigenschaft eines „trou normand“, wie man umgangssprachlich den normannischen Verdauungsschnaps oder Calvados nennt, der ein Loch ins Innere brennt. Diesem metaphorischen Loch hat sich Bethan Huws gestellt. Gleichzeitig sei Duchamp ein wahrer Normand, nämlich, wie die Künstlerin verriet: ausweichend und schlau wie ein Fuchs. Er hinterlässt uns ein Werk, das wir wohl nie ganz entschlüsseln werden, und das gerade dadurch das komplexe Thema von künstlerischer Bedeutungserzeugung ständig von neuem vorführt. Mit dieser Aussicht sind wir alle ins Denklabor zur eigenen Forschungsarbeit und zu unserem eigenen Sinnieren eingeladen.
Workshop-Reihe
An drei Abenden lädt das Kunstmuseum Bern alle Interessierten zu einer intensiven, im gemeinsamen Gespräch entwickelten Annäherung an die Installation von Bethan Huws und ihre Duchamp-Forschung ein. Programm (PDF).
Veröffentlicht unter Experten am Werk
Schlagwörter: Installation