Ein Gespräch mit Silvia Gertsch
Für die Vorbereitung der Ausstellung «Silvia Gertsch, Xerxes Ach: Sinnesreize» hat sich die Kuratorin Kathleen Bühler mit der Künstlerin Silvia Gertsch zum Gespräch in ihrem Atelier in Rüschegg getroffen.
Kathleen Bühler: Wie beginnst du mit einem neuen Bild?
Silvia Gertsch: Ich beginne meistens oben links oder oben rechts. Jeden Tag male ich einen Teil – alla prima, d. h. nass-in-nass, also das Gegenteil von Xerxes Achs Vorgehensweise. Das Bild setzt sich wie ein Puzzle langsam zusammen, nicht Schicht auf Schicht. Tag für Tag wächst das Bild um ein Stück. Seit ein paar Jahren male ich auch in Öl. Früher war es Acryl und da hatte ich den Stress, dass ich in einer Nacht das ganze Bild fertig malen musste, weil Acryl sofort trocknet. Jeden Abend hatte ich Lampenfieber, ob ich ein Bild überhaupt beginnen sollte, weil ich genau wusste, dass ich dann bis zum Morgen durchhalten musste. Eines Tages schlug Xerxes vor, dass ich mit Öl malen und es ruhiger nehmen sollte. Das verstiess zunächst gegen meine Überzeugung. Ich wollte nie mit Ölfarbe malen, weil die nicht mit Wasser gemischt gemalt werden kann und die Pinsel nicht einfach zu reinigen sind. Heute male ich nur noch mit Öl und schaffe in einem Tag, je nach Schwierigkeitsgrad der Stelle, ein etwa 30 cm x 20 cm grosses Stück. Um jeden Tag mein Pensum zu erfüllen, muss ich genau wissen, wie das Bild aussehen soll. Ich muss mich an die Atmosphäre halten und das bis zum Schluss durchziehen. Inzwischen bearbeite ich meine Bildvorlagen am Computer und entscheide mich dann zwischen mehreren Versionen. Oft kompiliere ich eine Vorlage aus mehreren und nehme überall das Beste heraus. Dann übertrage ich es in eine Vorzeichnung auf die Vorderseite des Glases und male es mit Öl auf die Hinterseite. Bei meinen aktuellen Landschaftsbildern gefällt mir, dass sie von nah gestisch und abstrakt wirken, während sie von Weitem detailliert und realistisch scheinen. Mir geht es nicht um Realismus, sondern zum Beispiel um die Frage, wie man mit abstrakt gesetzten Flecken Wasseroberflächen darstellen kann. Die Wirkung aus der Ferne ist extrem wichtig. Mittlerweile lasse ich zu, dass es aus der Nähe nicht mehr so exakt wirkt.
Wie kommt es, dass deine Farben so intensiv strahlen, als ob sie von hinten beleuchtet würden?
Mein Thema ist Licht und Schatten. Ich wünsche mir, dass meine Malerei aus sich heraus leuchtet. Auch wenn es in Gestalt von gegenständlicher Malerei ist, geht es letztlich um die abstrakten Eigenschaften von Licht, seine Strahlkraft. Eine Zeit lang dachte ich, dass Licht viel Weiss und wenig Dunkel bedeutet. Heute weiss ich, dass es viel Dunkelheit braucht, um das Licht zum Strahlen zu bringen. In meinen aktuellen Werken November und Landschaft, die das Gegenlicht als alles überstrahlende Fläche zeigen, muss das Weiss richtig «knallen». Das Licht lässt nur noch die Silhouetten stehen und erzeugt eine Aura.
Wie bist du auf Glasmalerei gekommen, eine Technik aus dem 14. Jahrhundert, die vor allem im Folklorebereich und in der religiösen Malerei ihre Wurzeln hat?
Als ich realisierte, dass ich Malerin bin, stellte sich für mich das Problem, wie ich mich von meinem berühmten Vater absetzen konnte. Ausserdem missfällt es mir, auf Leinwand zu malen, weil sie die Farbe aufsaugt und zu wenig Widerstand bietet. So bin ich auf Hinterglasmalerei gekommen. Zudem gefiel mir die ästhetische Nähe zum Videomonitor, der auch flimmernde Bilder hinter Glas zeigt. Nach einer grundsätzlichen Besinnung, was für mich ein Bild ist – nämlich Bruchstücke von Gedanken, Erinnerungen und Visionen – entschied ich, dass ich jedes Bild malen kann, ohne auf die Logik der Wirklichkeit zu achten. Zunächst wählte ich Glasscherben, die ich in freie Formen schnitt und bespielte damit mein damaliges Atelier. Zugleich besuchte ich die Fachklasse Freie Kunst an der Hochschule der Künste Bern. Meine Wandinstallation Sterntaler aus 49 Scherbenbildern war die Sensation an der Abschlussausstellung. Kurz darauf gewann ich das Aeschlimann-Corti-Stipendium. Obwohl ich auch damals das Gefühl hatte, dass Malen tabu war, da es überall für tot erklärt wurde, wusste ich gleichzeitig, dass Hinterglasmalerei mein Medium ist: kalt, verschlossen und doch ein Fenster in eine andere Welt.
Wie sind die Selbstbildnisse 27ICH entstanden?
Das war eine Auseinandersetzung mit mir selbst, kurz bevor ich Xerxes Ach kennenlernte. Pro Tag stellte ich ein Porträt nach einem Polaroidfoto von mir her. Die Gesichter haben nur angedeutete Augen, da es mir nicht um den Blick oder die Realität ging. Ihre expressive Farbigkeit und die freie Malweise – ohne Vorzeichnung – waren eine Trotzreaktion gegen das Malverbot. Meine Überzeugung war: «Ich habe ein inneres Bild und male es mir vor mein Auge.» Bis heute kann ich nicht anders, als «verkehrt» zu malen. Danach begegnete ich Xerxes. In seinem Atelier wurde ich von seinen weissen Kreidebildern völlig erschüttert. Es war faszinierend: Stille, Leere und das Nichts. Daraufhin besuchte ich ihn im Atelier in Genua (1992) und begann eine neue Serie, bei der ich Variationen von Orangen im Schüttstein malte. Sie gehören zu meinen abstraktesten Bildern überhaupt: Verschwommene Kugeln vor neutralem Hintergrund in lichten Farben. Das Flimmern kam durch die zusätzliche, zart eingefärbte Lackierung auf der Vorderseite zustande, die den Effekt eines milchigen Glases erzeugt.
Nach dem Atelieraufenthalt in Genua zogen wir zusammen nach Zürich und teilten auch das Atelier. Mir war es immer noch nicht möglich, menschliche Figuren zu malen. Stattdessen malte ich kalte Neonröhren, die sich im Fenster spiegeln oder warmes Lampenlicht in Wohnungen, wenn wir gemeinsam auf der Suche nach Bildmotiven durch die Nacht zogen. Für die Ausstellung Freie Sicht aufs Mittelmeer (Kunsthaus Zürich, 1998) wollte ich nun auch noch das bewegte Licht darstellen und begann, Autobahnen in der Nacht oder in der Dämmerung zu malen. Damals warteten wir immer auf schlechtes Wetter. Regen, Nebel und schlechte Sicht ergaben die schönen malerischen Motive mit den dramatischen diffusen Lichteffekten. Um diese festzuhalten, reichte eine Fotokamera nicht mehr. Ich musste sie filmen und nach Videostill malen und präsentierte sie wie filmische Sequenzen in einer Reihe gehängt. Deshalb tragen sie den Titel Movie.
Vorhin hast du den Widerstand erwähnt, den du suchst. Was hat es damit auf sich?
Ich brauche Widerstand, um mich zu spüren. Das gilt besonders für Glas. Es setzt eine Grenze, durch die man nicht hindurchkann. Mir wurde schon viel nachgesagt, etwa dass ich mich und meine Handschrift hinter dem Glas verstecke. Doch muss man nicht alles preisgeben.
Wann hast du dich nach deiner «abstrakten» oder «figurlosen» Zeit wieder an Figurenbilder gewagt?
Mit den beiden Figurenbildern Movie (2002), welche für mich prägend wurden. Ich hatte es mir bisher nicht erlaubt, Figuren zu malen. Und dann stiess ich an einem Tag auf vier «verrückte» Motive. Das war im Tram beim Bahnhof Selnau in Zürich an einem Sommernachmittag. Xerxes sah die Personen im Gegenlicht zuerst und warf mich regelrecht aus der Strassenbahn. Es war ein spezieller Moment, als die Sonne ganz flach zwischen den Häusern durchschien, die Strasse fast weiss wurde und die Figuren lange Schatten warfen. Dann, eine halbe Stunde später, sah ich eine junge Frau im Tram. Vom Gegenlicht wurde ihr Gesicht überstrahlt und damit richtiggehend «ausgelöscht». Mich faszinierten extreme Lichtsituationen schon immer. Licht ist manchmal brutal. Gleichzeitig waren es die ersten Bilder, bei denen ich auf der Vorderseite den Lack wegliess. Xerxes forderte mich auf, nichts mehr an ihnen zu machen. Ich hielt das zunächst fast nicht aus, weil es mir «unfertig» erschien. Doch wurden sie so ausgestellt und vom Fleck weg von Peter Pakesch für seine Ausstellung Painting on the Move (Kunsthalle Basel, 2002) ausgewählt. Von da an habe ich nie mehr lackiert. Kurze Zeit darauf erwachte meine Lust auf Tageslicht, Sommer und Unbeschwertheit. Ich begann Werke mit jungen Menschen beim Baden im verzauberten Alltag. Man könnte meinen, dass die Leute für mich posierten. Doch sind das alles Sequenzen aus Videos oder Auszüge aus Schnappschüssen.
Weshalb hast auch du begonnen, mit selbst gemischten Farben zu arbeiten?
Die Harze in maschinell angefertigter Farbe reizten unsere Atemwege. Und da ich auch gerne koche, sah ich das Farbmischen wie einen Kochvorgang. Meine selbst hergestellten Farben sind dickflüssiger und körperhafter. Die stärkere Pigmentierung erzeugt eine grosse Farbintensität. Inzwischen sehe ich es einem Gemälde sofort an, ob es mit selbst gemischten Farben gemalt wurde oder nicht.
Nach den Sommerbildern kam die Phase der Film Stills (2011–2012). Was gab hier den Anstoss?
Als wir nach einem längeren Aufenthalt in Italien nach Rüschegg kamen, vermisste ich das städtische Treiben zunächst und schaute in der ersten Zeit viele Filme auf DVD. Plötzlich begannen mich diese virtuellen Personen zu faszinieren. Ich entdeckte die Bildbearbeitung am Computer und konnte meine Bildvorlagen nach Belieben anpassen. Ab 2012 sind es nun vermehrt Situationen in der Stadt Bern, die ich mit dem Mobiltelefon fotografiere und später malerisch umsetze, wie das Gegenlicht vor dem Loeb-Warenhaus oder Wartende an Busstationen.
Und weshalb verschwinden in den neuesten Werken die Menschen wieder?
Zunächst wollte ich sieben Gegenlichtsituationen mit Menschen und sieben menschenleere Landschaften für die Ausstellung malen. Nun geben die Landschaften den Auftakt. Schon seit meinem Aufenthalt in Italien schwebten mir menschenleere Landschaften vor. Es sind Sehnsuchts- oder Traumlandschaften. Paradiesische Zustände, die sich – wie die Sommerbilder – im Moment realisieren, denn wir wissen, dass die Zeichen der Zivilisation überall sind und sich gleich ausserhalb des Rahmens befinden. Die Landschaften wirken frei, unaufdringlich und haben etwas Selbstverständliches.
Am Dienstag 15.12.2015 um 19h führt Sarah Merten zusammen mit der Künstlerin Silvia Gertsch durch die Ausstellung «Silvia Gertsch, Xerxes Ach: Sinnesreize».
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