Publiziert am 2. September 2016 von Valentina Locatelli

Ein Gespräch mit Maruch Sántiz Gómez

Das Interview wurde im November 2015 und Januar 2016 via E-Mail von der Kuratorin Valentina Locatelli auf Spanisch geführt und ist dem Ausstellungskatalog “Without Restraint: Werke mexikanischer Künstlerinnen aus der Daros Latinamerica Collection” (Hatje Cantz, Ostfildern) entnommen.

Valentina Locatelli: Arbeiten Sie nach wie vor am Archivio Fotográfico Indígena (AFI)? Und wenn nicht: Wann und aus welchem Grund hörte Ihre Mitarbeit dort auf?
Maruch Sántiz Gómez: Ich hörte 2004 dort auf, und zwar wegen persönlicher Schwierigkeiten mit der früheren Leiterin [Carlota Duarte]. Ich hatte das Gefühl, auf eine andere Art kämpfen zu müssen, um weiterzukommen. Mit Gottes Hilfe habe ich ein Stipendium bekommen. Als ich beim AFI arbeitete, hatte ich nicht das Gefühl, frei zu sein.

Ist die Serie Ihres Projekts Creencias abgeschlossen? Wie viele “creencias” haben Sie insgesamt denn zusammengetragen?
Ehrlich gesagt weiss ich nicht, wann die Serie beendet sein wird. Mittlerweile recherchiere ich in anderen Gemeinschaften. In meinem ersten Buch waren dreiundvierzig schwarz-weisse “creencias”. Ausserdem habe ich fünfzig Farbfotos gemacht für die Serien El uso de las plantas medicinales (Die Verwendung von Medizinpflanzen), Los insectos y orugas (Insekten und Raupen), La gastronomía (Gastronomie) und Creatividad del proceso de lana y el bordado (Kreativität in Woll- und Stickarbeiten).

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Vax alak’ (Los niños no deben comer patas de pollo / Kinder sollten keine Hühnerfüsse essen / Children Should Not Eat Chicken Feet), 1994, Silbergelatineabzug und Text im Passepartout / Gelatin silver print and text in passe-partout, 78 x 64 cm; Foto / photo: 40.4 x 50.4 cm, Edition von / of 20, Nr. / no. 1/20, Daros Latinamerica Collection, Zürich, Peter Schälchli, Zürich, © 2016 für die abgebildeten Werke / for the reproduced works: die Künstlerin / the artist

Woran arbeiten Sie im Moment? Haben Sie ein neues Projekt angefangen, oder haben Sie schon Ideen für ein weiteres Projekt?
In letzter Zeit bin ich mit meinen Recherchen vorangekommen. Ende dieses Monats [November 2015] läuft mein Stipendium aus. Sich in der Kunst der Fotografie weiterzuentwickeln, ist sehr schwierig. Im Augenblick arbeite ich am Thema Wollstoff. Aber ohne Stipendium ist es einfach anders, denn Kunst zu machen, wird sehr schlecht bezahlt, es ist ein ständiger Kampf. Mit Gottes Hilfe werde ich hoffentlich eine Arbeit finden.

Arbeiten Sie immer noch in Serien?
Ich war seit 2013 in zehn verschiedenen Gemeinschaften, um die unterschiedlichen traditionellen Trachten und Volksweisheiten zu fotografieren, die es in der Region Los Altos de Chiapas gibt.

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K’ajben xchi’uk aj (No pegar a alguien con rastrojo y carrizo / Man soll niemanden mit Stangen und Schilfrohr schlagen / Do Not Hit Someone with Stalks and Reeds), 1994, Silbergelatineabzug und Text im Passepartout / Gelatin silver print and text in passe-partout, 78 x 64 cm; Foto / photo: 50.4 x 40.4 cm, Edition von / of 20, Nr. / no. 3/20, Daros Latinamerica Collection, Zürich, Peter Schälchli, Zürich, © 2016 für die abgebildeten Werke / for the reproduced works: die Künstlerin / the artist

Um Ihrer Leidenschaft zu folgen und Künstlerin zu werden, haben Sie schwierige Zeiten durchgemacht. Wie ist es Ihnen gelungen, Ihre Rolle als Frau und Mutter mit Ihrem Beruf als Künstlerin zu vereinbaren?
Es hat sehr lange gedauert, bis ich Künstlerin geworden bin und an dieser Art von Projekten arbeiten konnte. Zuerst musste ich mich mit meiner Familie auseinandersetzen, die nicht wollte, dass ich als Fotografin weiterarbeite; ich sollte mich auf die häuslichen Aufgaben konzentrieren. Als ich mich weigerte, meine Arbeit als Fotografin und Autorin aufzugeben, kam die nächste Schwierigkeit: Ich musste mit meinen beiden Kindern meine Gemeinschaft verlassen. Ausserhalb der Gemeinschaft zu leben, war eine notwendige Übergangsphase, um mich meiner künstlerischen Arbeit und zu widmen und mich weiterzubilden. Um seine Ziele zu erreichen, muss man viele Hindernisse überwinden und viele Situationen meistern. Ich glaube, dass viele, die ihre Gemeinschaft verlassen müssen und zum Arbeiten in die Stadt gehen, zuerst eine Phase der Verleugnung durchleben. Anfangs glaubte ich, verheimlichen zu müssen, wer ich wirklich war und woher ich kam, ich behauptete sogar, aus einer anderen Stadt zu kommen, bis ich mich schliesslich an die andere Lebensweise und die Auffassungen gewöhnt hatte, die in der Stadt eben herrschen. Erst dann konnte ich wieder mit Stolz sagen, dass ich aus Chamula de los Altos de Chiapas komme. Als diese Übergangsphase zwischen den beiden Welten vorbei war, konnte ich mich endlich auf meine kreative Arbeit konzentrieren, bei der es ja um das traditionelle Wissen und die Sinnsprüche geht, also Dinge, die nur die älteren Menschen in den ländlichen Gemeinschaften [in Chiapas] noch kennen. Das wurde mir alles mündlich mitgeteilt, es waren ja Redewendungen, denen sie gefolgt sind. Aber heute befolgen die Leute sie nicht mehr, aus verschiedenen Gründen; das hat vor allem mit den Veränderungen durch die moderne Zivilisation zu tun.

Arbeiten Sie jetzt, da Ihre Kinder erwachsen sind, ausschliesslich als Künstlerin?
Das Arbeiten sieht für mich immer anders aus. Manchmal fotografiere ich den ganzen Tag, aber es ist nicht einfach, solches Wissen aufzuspüren, und oft ist es verboten zu fotografieren. Durch das Stipendium, das ich bislang bekommen habe, konnte ich reisen, aber ohne Stipendium ist es unmöglich, in der Fotografie voranzukommen.

Haben Sie jemals ein Foto, das Sie eigentlich machen wollten, nicht gemacht, weil Ihnen davon abgeraten wurde? Und wenn ja, welches Motiv war das? Und was war der Grund?
In einigen Gemeinschaften konnte ich die Menschen in ihren traditionellen Trachten nicht porträtieren.

Mit Ihrer Arbeit haben Sie dazu beigetragen, Ihre Gemeinschaft und deren kulturelle Identität sichtbarer zu machen. Was bedeutet das für Sie?
In Mexiko, aber auch in anderen Ländern fragen mich Student/innen und Menschen, die Kunst lieben, nach meiner Arbeit. Das berührt mich sehr, denn hätte ich mich nicht eingesetzt, um weiterhin als Künstlerin zu arbeiten, würden die Leute mich nicht kennen. Trotzdem habe ich nicht das Gefühl, genug gelernt zu haben. Es gibt immer noch mehr zu lernen.

Was sagen die Menschen in Ihrer Gemeinschaft zu Ihrer Arbeit?
In solchen Gemeinschaften gibt es kaum Ausstellungen. Manchmal fragen mich Lehrer/innen und Schüler/- innen, wer mich auf die Idee brachte, Fotografin zu werden. Aber in der kleinen Gemeinschaft, in der ich geboren wurde, wissen nur wenige, dass ich Fotografin bin. Ich habe dort nie jemanden um ein Interview gebeten, in der Schule fotografiere ich nur sehr selten. Das Rathaus habe ich nie fotografiert, weil ich gesehen habe, dass man dann eine Strafe bezahlen muss oder sogar geschlagen wird. Deswegen musste ich auch andere Themen finden, die ich dokumentieren wollte. Es gibt mir ein gutes Gefühl, als Autorin bekannt zu sein. Ich habe auch in anderen Teilen von Los Altos de Chiapas zu fotografieren versucht, aber meistens mögen die Leute das nicht und werden wütend. Wenn jemand nicht fotografiert werden will, muss man das respektieren.

Was können die Menschen in den anderen Teilen Mexikos und im Ausland vom traditionellen Wissen und den Volksglauben in Ihrer Gemeinschaft lernen?
Durch die Modernisierung verändert sich vieles, es wird immer weniger Wissen über die Vorfahren von einer Generation an die nächste weitergegeben, und die Geschichten der indigenen Völker werden einfach vergessen. Mir gefällt die Weisheit, die im Gedächtnis der ganz Alten gespeichert ist, und es macht mir Spass, das zusammen mit Gegenständen aus meiner direkten Umgebung zum Ausdruck zu bringen. Dank meiner Ausstellungen weiss ich, dass meine Fotografien in der Öffentlichkeit auf grosses Interesse stossen. Aber ich habe mir das Fotografieren selbst beigebracht und habe auch viel von der Öffentlichkeit gelernt. Das hat mir Mut gemacht, mit der Fotografie weiterzumachen.

 

Maruch Sántiz Gómez wurde 1975 in Cruztón geboren, einem indigenen Dorf im Hochland von Chiapas, einer Region im Süden Mexikos, in der mehr oder minder ausschliesslich direkte Nachfahren der Maya leben. Zu Anfang der 1990er Jahren kam Sántiz Gómez mit der Fotografie in Berührung und begann mit ihrem Langzeit-Fotoprojekt Creencias (Volksglauben, 1994–1996). Dafür erforschte und sammelte sie in ihrer Gemeinschaft und den umliegenden Dörfern Dutzende Sinnsprüche, schrieb sie in Ttzotzil auf, übersetzte sie ins Spanische und ergänzte jeden durch eine Schwarz-Weiss- oder Farbaufnahme. In diesen Bildern zeigt sie banale Gegenstände und Gerätschaften ihres Alltags, etwa einen Besen, einen Topf, einen Spiegel, sowie Tiere. Diese Sinnsprüche haben die spirituelle Energie eines indigenen prä-hispanischen Volksmunds, der seit Generationen mündlich tradiert wird und nun Gefahr läuft, völlig verloren zu gehen, wenn er nicht aufgezeichnet wird. Als Frau und als Indigene verkörpert Sántiz Gómez in Mexiko das zweifach “Andere”, und indem sie in ihrer Arbeit aktiv die Rolle der Künstlerin/Anthropologin übernimmt, behauptet sie sich nicht nur als Frau, sondern ergreift auch das Wort für die ethnische indigene Minorität, aus der sie stammt. Damit unterwandert sie das Exotische, das sie aus der Sicht des männlich dominanten Systems darstellt, und wird, indem sie hinter der Kamera steht, zu einer Mittlerin des gesellschaftlichen Wandels. 

Werke aus Creencias sind in der Ausstellung«Without Restraint. Werke mexikanischer Künstlerinnen aus der Daros Latinamerica Collection» noch bis am 23. Oktober 2016 zu sehen.

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Autor

Valentina Locatelli

Valentina Locatelli (geb. 1979 in Bergamo, Italien) ist Kuratorin der Ausstellung «Without Restraint». Seit 2013 gehört sie zum Team des Kunstmuseums Bern, wo sie als Leiterin des Katalogprojekts der Sammlung tätig ist. Zwischen 2009 und 2011 arbeitete sie bei der Fondation Beyeler, Riehen/Basel, wo sie zahlreiche Ausstellungskataloge redaktionell betreute.

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