Die Fäden der Gegenwart – Interview mit der Videokünstlerin Lena Maria Thüring
Die Videoarbeiten von Lena Maria Thüring sind intensive Auseinandersetzungen mit soziokulturellen und soziopolitischen Themen unserer Zeit. Dabei ist die gesprochene Sprache das zentrale Medium, an welchem Lena Maria Thüring Prozesse der Geschichtsproduktion sichtbar macht. Ausgangspunkt für ihre Videos sind jeweils ausgedehnte Gespräche und Interviews mit Menschen, die das Interesse der Künstlerin wecken. Die mündlich überlieferten biographischen Erzählungen thematisieren beispielsweise Familiengeschichten oder das Aufwachsen in Krisengebieten. Lena Maria Thüring schreibt die Transkriptionen jedoch um, sie formuliert neu und verdichtet sie. Anschliessend lässt sie die so entstandenen Skripte vor der Kamera zuweilen von SchauspielerInnen wieder vortragen. Vom anfänglichen Gespräch im privaten Rahmen bis hin zum Endprodukt finden so mehrere Übersetzungsprozesse statt, mit Hilfe derer die Erinnerungen an ein individuelles Schicksal gelöst und stattdessen in ihrer systemischen Struktur beleuchtet werden.
Wer spricht? Das ist eine der zentralen Fragen in den Arbeiten von Lena Maria Thüring, und weil in Ausstellungen die Kunstschaffenden häufig nur mit ihren Werken zu Wort kommen, habe ich Lena Maria Thüring ein paar Fragen zu ihrer künstlerischen Arbeit gestellt.
Sarah Merten: Im Video Strings (2011), das aktuell im Sammlungsraum im PROGR gezeigt wird, hören wir einen jungen palästinensischen Mann über seine von Gewalt geprägte Jugendzeit sprechen. Kannst du uns erzählen, wie es zur Zusammenarbeit mit diesem Menschen gekommen ist?
Lena Maria Thüring: Meistens suche ich die Geschichten nicht, sondern ich begegne ihnen. Sie begleiten mich teilweise mehrere Jahre, bis sie Anlass zu einer Arbeit geben. Es sind oft Geschichten von Personen, die mir nahestehen und deren Spuren ich nachgehen möchte. Es gibt aber auch Werke, die auf neuen Begegnungen beruhen, wie bei der Arbeit Strings. Während meines Atelierstipendiums in der Cité des Arts in Paris habe ich diesen jungen palästinensischen Künstler kennen gelernt, mit dem mich noch heute eine gute Freundschaft verbindet. Wir haben viel zusammen gekocht und gesprochen und er hat mir seine Erlebnisse erzählt. Kurz vor seiner Abreise fragte ich ihn, ob ich unser Gespräch aufzeichnen könnte.
SME: Das einzige, was wir im Video sehen, sind die Hände des Mannes und wie sie die Erzählungen mit Gesten untermalen. Im Laufe der Zeit verändert sich jedoch seine Sprache. Besonders ab dem Moment, als die Hände zu sticken beginnen werden die Erzählungen ruhiger und reflektierter. Hast du mit dieser Entwicklung gerechnet, als du das Video aufgenommen hast und wie müssen wir uns überhaupt das Setting vorstellen?
LMT: Das Sticken als eine Handarbeit, die viel Konzertration verlangt und einen Ablauf immer der gleichen Handbewegungen ausführt, hat sicher eine meditative und beruhigende Wirkung. Die Veränderung in der Sprache ist aber auch der Länge unseres Gesprächs geschuldet. Wir haben gesprochen bis es dunkel wurde, dies wurde auch zu einem visuell sichtbaren dramaturgischen Bogen im Video, da ich nur mit natürlichem Licht gedreht habe. Ich nenne es manchmal die „Diane Arbus’sche Methode“, eine Ermüdungsmethode, die ein Loslassen und sicher auch eine Beruhigung bewirkt. Es ist aber in Wahrheit vielleicht weniger eine Methode, sondern mehr meine Arbeitsweise, da ich nicht sehr pragmatisch bin und stattdessen alles ausdehne. Ich mag es viel Zeit zu haben, das war in diesem intimen Setting auch möglich, da ich alles selber gedreht habe. Mit einem grossen Kamerateam geht das weniger gut.
SME: Die Themen deiner Arbeiten sind häufig beklemmend. In Kreide fressen (2013) verhandelst du etwa Kindsmissbrauch im schulischen Umfeld. Interessieren dich die harmonischen und friedlichen Seiten des Lebens nicht?
LMT: Ich denke kein Leben verläuft durchgehend harmonisch ab, insofern interessieren mich aber auch nicht die hochdramatischen Geschichten, sondern die alltäglichen. Bei Kreide fressen (2013) geht es nicht in erster Linie um den Kindsmissbrauch, sondern um die Frage wie die Gesellschaft damit umgeht, wie das Umfeld auf dieses Tabu reagierte, die Dynamiken, die dieser Fall ausgelöst hatte, die Lücken und Leerstellen der Erinnerung, die Verarbeitung und wie darüber gesprochen oder nicht gesprochen werden kann. Bei Strings (2011) hat mich interessiert wie sich die Geschichte des palästinensischen Kollektivs unlösbar mit der persönlichen Geschichte verschränkt. Die Isolierung einer kollektiven Gemeinschaft durch die Besetzung und Enteignung des Landes führt zu einer Verstärkung des «Wir-Gefühls», der kollektiven Identität und auch zu einer kollektiv geprägten Erinnerung. Meine Werke verknüpfen so persönliche Erlebnisse mit allgemeineren Vorstellungen von Wahrnehmung und Erinnerung. Dabei interessiert mich, wie erinnert wird, wie diese Erinnerungen zu Sprache werden. Ich verstehe meine Themen, das Was, eher als Anlässe, um über das Wie nachzudenken und danach zu fragen, wie sich unsere Gesellschaft konstituiert. Ich gehe dazu den Umweg von individuellen Erinnerungsfragmenten über die Konstruktion dieser Fragmentierung zur Vorführung einer Narration.
SME: Woran arbeitest du gerade? Kannst du uns etwas über dein neuestes Projekt verraten?
LMT: Ich habe soeben das Videoprojekt Future me (2015) im Rahmen eines Education Projekts des Museum für Gegenwartskunst Basel abgeschlossen und dort gezeigt. Zur Zeit geniesse ich es, wieder etwas mehr Zeit für Recherchearbeit zu haben. Ich lese das Buch von Donna Haraway, Die Neuerfindung der Natur, Primaten, Cyborgs und Frauen – in diese Richtung führt mich momentan mein Denken über eine neue Arbeit.
Lena Maria Thüring wurde 1981 in Basel geboren und lebt heute in Zürich. www.lenamariathuering.ch
Das Video Strings von Lena Maria Thüring ist noch bis zum 17. Oktober im Fenster zur Gegenwart, dem erweiterten Sammlungsraum des Kunstmuseum Bern im PROGR zu sehen. Öffnungszeiten: Mittwoch bis Freitag 14–18h; Samstag 12–16h
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Schlagwörter: Künstlergespräch, PROGR, Videokunst