Der Weg der Gemälde von Cesare Lucchini
Vom Atelierbesuch in Pregassona bis zur Ausstellung im Kunstmuseum Bern.
In der Ausstellung »Was bleibt.« Die Welt des Cesare Lucchini sind sechzig meistenteils grossformatige Gemälde zu sehen. Bereits die Vorauswahl forderte von den Kunstwerken viel ab: Sie mussten für die Betrachtung den Weg aus ihrem Aufbewahrungsgestell bis an die Wand und wieder zurück schadlos überstehen. Das Handling der mitunter monumentalen Formate war angesichts der gewohnten musealen Standards, die den Gemälden spätestens im Kunstmuseum Bern zukommen werden, einer Herausforderung. Was uns Kuratoren fast schon verantwortungslos erschien, zeigt sich im Arbeitsalltag von Cesare Lucchini ganz anders: Er malt zeitgleich an mehreren Gemälden einer Werkserie und bewegt diese, ohne Rücksicht auf die Leinwandkanten zu nehmen, hin und her.
Alle Beteiligten an einer Ausstellung haben eigene Interessen. Der Künstler bevorzugt bestimme Werke, weil er mit und an ihnen wichtige Erfahrungen gemacht hat. Die Kuratoren bevorzugen bestimmte Werke, weil sie ihren Sehgewohnheiten entgegenkommen. Und wenn alles glückt, treffen sich beide Partner in der Mitte. Am Ende sieht der Kurator durch die Augen des Künstlers auf dessen Werk und wahrt doch einen notwendigen Abstand. Am Ende nimmt sich Lucchini – und das ist eine Besonderheit – manchmal wieder ein Gemälde hervor, bei dem er während der gemeinsamen Gespräche eine Unstimmigkeit entdeckt hat, die er korrigieren möchte. So können Gemälde, die vor Jahren entstanden sind, wieder eine unerwartete innerbildliche Spannung bekommen. Es kann aber auch vorkommen, dass der Künstler neu übermalte Werke oder ganze Serien wieder zerstört. Immer dann, wenn die Datierung eine Zeitperiode durch den Bindestrich zwischen den Jahren hervorhebt, kann der Betrachter nach den Spuren der Übermalungen suchen. Wie ein Archäologe kann er hier auf besondere Bedeutungen stossen und auch dem Wandel eines Bildes nachspüren.
Das war eine Erfahrung, die ich bei und nach den Atelierbesuchen für die Vorauswahl der Ausstellung im Kunstmuseum machen konnte – trotz des Einlesens in verschiedene Ausstellungskataloge. Vor dem Original sah alles anders aus. Vor allem aber, erst vor dem Original kamen die Details zum Vorschein, die den inneren Zusammenhalt des Werkes von Lucchini ausmachen.
Das Kunstmuseum greift in dieser Ausstellung, die als Retrospektive ausgelegt ist, auf ausgewählte Werkgruppen des Künstlers zurück. Dabei ist es eine Besonderheit des künstlerischen Schaffens von Lucchini, dass sich die frühen Gemälde mit denjenigen der letzten Jahre inhaltlich verschränken. Lucchini ist ein Maler, der die menschliche Figur in seine Bilder hineinträgt, auch wenn diese fast aus dem Gemälden verbannt erscheint. Er ist ein Maler, der über das Malen reflektiert und in seinen Bildern die malerischen Bedingungen sichtbar macht. Das Gemälde an der Wand soll als Tafelbild wahrgenommen werden. Zudem ist es niemals lediglich die Darstellung von etwas, was als Motiv wiedergegeben ist. Das Atelier-Bild ist immer auch der Innenraum (Interno) des Künstlers, der Kopf (Testa) öffnet sich dem Umraum, der Kindersoldat (Bambino soldato) ist eine historische Gegebenheit, aber seine Umsetzung resultiert aus der Lektüre von Günter Grass Roman Die Blechtrommel. Die Bootsflüchtlinge vor Lampedusa, ihre Not und ihr Elend werden bildhaft vermittelt, fast schon symbolisch in dem Gemälde gezeigt. In der Malerei jedoch wird ein Kampf ausgetragen: Die vehementen Farbspritzer, der kräftige Pinselduktus und die Übermalungen stehen wie stellvertretend für das, was auf menschlicher Ebene als Schicksal hinter den Figuren liegt.
Das war mir damals im Atelier vor den Gemälden noch nicht so deutlich. Aber mit Abschluss der Werkauswahl und der Arbeit am Ausstellungskatalog, zeichnete sich dieser gedankliche Weg der Gemälde langsam ab. Wenn die Gemälde schliesslich im Museum hängen, dann werden die Originale erneut erzählen: Meine oder eine andere Geschichte.
Die Ausstellung »Was bleibt.« Die Welt des Cesare Lucchini eröffnet am 22. September und dauert bis am 8. Januar 2017.
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Schlagwörter: Cesare Lucchini, Malerei