Das Phänomen Stampa. Die Giacomettis
Es gibt Landstriche, Gegenden, Dörfer und Weiler, Täler und Regionen, die wären ohne dort aufgewachsene und wirkende Künstler das, was sie schon immer waren und stets geblieben wären – banale, nichtssagende Orte, blosse Bezeichnungen auf entlegenen Fluchten von Landkarten: Carte blanche. Wer würde schon das bretonische Fischerdörfchen Pont-Aven kennen, das sich heute dem Ankommenden auf der Ortstafel mit «cité des peintres» anpreist, wenn nicht Paul Gauguin und seine Schüler hier gewirkt hätten? Wenigstens im Bannkreis der Kunst würden sie uns nichts bedeuten, Ortsnamen wie Giverny, St. Rémy, Worpswede, Murnau, Moritzburg, Frauenkirch oder Oschwand, wenn wir sie nicht unweigerlich verbänden mit den Namen grosser Künstler wie Claude Monet, Vincent van Gogh, Paula Modersohn-Becker, Wassily Kandinsky, Ernst Ludwig Kirchner oder Cuno Amiet.
Das wesentliche Charakteristikum der Kunst aus Graubünden ist der Spannungsbogen zwischen «Welt» und «Heimat», das stete und fruchtbare Wechselverhältnis zwischen einer tiefen Verwurzelung in der alpinen Umwelt und der allseitigen Offenheit für das Andere und Fremde. Stampa – das unscheinbare Bauern- und Bergdorf, Durchgangsort, weder Hauptort des Tales noch mit einer eigenen Kirche gesegnet, avancierte dank herausragender, hier aufgewachsener Künstler, die allesamt schweizerische, ja internationale Bedeutung erlangten, zum klingenden Begriff in der Topographie moderner Kunst: «Bergell – Heimat der Giacometti», «Weltkunst aus dem fernen Tal», «Phänomen Stampa», so und ähnlich tönen die entsprechenden Schlagworte. Die Künstlerfamilie der Giacomettis begründete diesen Ruf und festigte ihn mit der zunehmenden Berühmtheit ihrer einzelnen Mitglieder. Auf dem kleinen Friedhof von Borgonovo liegen sie alle begraben: Giovanni, der in jungen Jahren in München und Paris studierte und dann für immer in seine Heimat zurückkehrte, Augusto, der in Paris, Florenz und in Zürich seine Karriere machte, Alberto, der zwar seit 1922 in Paris lebte und arbeitete, sich aber fast jedes Jahr regelmässig für einige Wochen nach Stampa und Maloja begab, um dort zu arbeiten, sowie sein Bruder Diego, der dem Älteren zeitlebens als Assistent zur Hand ging, aber als einziger ein gespaltenes Verhältnis zu seiner Heimat Bergell hatte.
Die Künstlerfamilie Giacometti: Es ist gar noch nicht lange her, als das breite Publikum noch seine liebe Mühe hatte im Auseinanderhalten der einzelnen Künstlerpersönlichkeiten: Wer ist denn jetzt nun der Vater von wem und wer der Onkel von diesem und so weiter? Das häufige Auftreten der unterschiedlichen Giacometti stiftete mitunter etwelche Verwirrung. Heute haben sich diese Nebelschwaden grösstenteils verzogen. Viele wichtige Ausstellungen, Publikationen und Filme der letzten Jahre trugen zu dieser Klärung bei, vor allem aber machten sie mit den einzelnen Œuvres vor allem von Giovanni und von Augusto Giacometti mehr und mehr vertraut. Wenn Alberto längst als Weltkünstler gilt, ist nun aber auch Diego Giacometti endgültig aus dem langen Schatten seines berühmten Bruders Alberto getreten.
Mehr über Stampa und die Giacomettis an Beat Stutzers Vortrag zur Ausstellung «Die Farbe und ich. Augusto Giacometti», am Dienstag, 13. Januar, um 20 Uhr.
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Schlagwörter: Malerei