Das grosse Bauen ohne Sinn für Architektur
Das Zentrum Paul Klee erwartete am Mittwochabend hohen Besuch: Niemand geringeres als der chinesische Künstler und Aktivist Ai Weiwei gab dem Publikum der zweiten Veranstaltung der Vortragsreihe «Chinese Challenges» die Ehre. Das Thema des Gesprächs «Bauen an der Zukunft: Die Rolle der Architektur im grossen Wandel» wurde von fachlicher Seite durch Jaques Herzog unterstützt – ein Part des weltweit agierenden und überaus erfolgreichen Schweizer Architekten-Duos Herzog & de Meuron. Weiterer Gesprächspartner war der Kunstsammler und ehemalige Schweizer Botschafter in China Uli Sigg, aus dessen Sammlung sich die aktuelle Ausstellung «Chinese Whispers» im Kunstmuseum Bern und im Zentrum Paul Klee speist. Die Moderation übernahm der ehemalige NZZ-Feuilleton-Chef Martin Meyer in gewohnt spitzzüngiger Manier.
Für die Gäste – Ai, Herzog und Sigg – war es längstens nicht das erste Zusammentreffen. Die Entwürfe für den Bau des anlässlich der olympischen Sommerspiele 2008 in Beijing errichteten «Bird’s Nest» National-Stadions stammen aus der Feder Herzog & de Meurons, denen Ai Weiwei und China-Kenner Uli Sigg in der Planungsphase beratend zur Seite standen. Ai selbst blieb der Eröffnungsfeier damals fern, kritisierte er doch die politische Vereinnahmung der Spiele und auch Herzog räumt ein, damals vielleicht mit etwas zu naiven Vorstellungen nach China gekommen zu sein. Den Schweizer Architekten reizten die Möglichkeiten des Bauens in China – Entwürfe umzusetzen, die im Westen undenkbar wären. Auch das Erlangen von einem tieferen Verständnis für die Welt, oder in diesem Falle Chinas, durch die Architektur war eine grosse Motivation, wobei der unermessliche Wissensreichtum des Künstlers Ai über die chinesische Geschichte, Traditionen und Kultur von unschätzbarem Wert gewesen seien.
Wenn auch das wohl bekannteste moderne Bauwerk Chinas, ist das Vogelnest-Stadion nur ein neues Bauwerk von unzähligen. Seit nunmehr zwei Jahrzehnten unterliegen Chinas Städte einer bautechnischen Transformation von Ausmassen, die sich gemäss Ai Weiwei in der Weltgeschichte kein zweites Mal finden lassen. So wuchs Beijing in den 90er Jahren so rasant, dass jährlich eine Fläche entsprechend der Ausdehnung der Stadt in den 70ern dazu kam: jedes Jahr ein neues Beijing. Den Stress den dies für die Bevölkerung darstellen musste, sich immer wieder auf die neuen Bedingungen einzustellen, können wir uns nur schwer vorstellen. Und Beijing ist kein Einzelfall. Die Bauaktivitäten beschreibt Ai als «massiv». Die Umsiedelung und Entwurzelung einer ganzen Nation sind die Folge. Trotz der hohen Baufrequenz existiert kein Diskurs über ästhetische oder stiltechnische Prinzipien der Architektur in China. Bauten in China erfüllten zwei Zwecke: Zum einen müssten sie den Entscheidungsträgern, den Parteikadern, gefallen. Kunst- und Stilverständnis findet man da nur selten. Viel präsenter sind repräsentative Ansprüche, die sich häufig in einer skurrilen Kreuzung von modernem Design in seiner überspitzesten Ausprägung und traditionellen Elementen («Chineseness») – wie zum Beispiel einem extravaganten Wolkenkratzer mit Pagoden-Dach – niederschlagen. Zum Zweiten baut China für den breiten Markt, die Bevölkerung, deren Ansprüche, die auch den angespannten Wohnverhältnissen in den Mega-Städten geschuldet sind, sehr einfach und aufs Funktionale beschränkt sind. Ai Weiwei fasst es in einer einfachen Metapher zusammen: «Die Menschen können ihr ganzes Leben lang essen, ohne zu wissen wie man kocht.» Das grosse Bauen ohne Sinn für Architektur.
Ausnahmen bestätigen die Regel, wie auch der neue Prestigebau von Herzog & de Meuron, das neue Mega-Museum M+, welches ab 2019 seine Tore öffnen soll und einen grossen Teil der Sammlung Siggs, die dieser 2012 als Schenkung an das Museum gab, zeigen wird. So zumindest die Hoffnung der Anwesenden, doch klingt die bange Sorge um die politischen Entwicklungen und eine drohende Verunmöglichung des Vorhabens in den Worten der Redner an. Der Druck Chinas auf Hongkong hat zugenommen, viel hängt von den anstehenden Wahlen ab. Auf die Feststellung des Moderators, Ai Weiwei hätte sich in einem früheren Interview als Optimisten bezeichnet, antwortet dieser: «Sie dürfen mir nicht alles glauben.» Ernst wird der sonst gutaufgelegte und schelmische Ai Weiwei auch bei der Publikumsfrage, ob er es denn für mögliche halte in China noch Einfluss zu nehmen, jetzt wo er in Berlin lebe. Die Konflikte mit den Autoritäten zu meiden und mehr Sicherheit für sich und seine Familie zu gewinnen, sei wichtiger. Ausserdem bietet Europa auch genügend Themen an, an denen Ai sich als Künstler und Aktivist abarbeiten kann: Derzeit arbeitet er an einem Film über die aktuelle Flüchtlingskrise und reiste zu diesem Zweck selbst in die betroffenen Gebiete, um mit den Menschen zu sprechen und zu filmen.
Prognosen für Chinas Zukunft wagen die Redner nicht. Was die Architektur betrifft, so spiegelt diese immer, zu jeder Zeit und an allen Orten den Zeitgeist und ist politisch – und dies gilt in China vielleicht noch mehr als anderswo.
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