Chinesisches Geflüster
Ein Abendessen mit Ai Weiwei in Beijing war zweifellos der Höhepunkt meiner Chinareise von vergangener Woche. Und wer den Dokumentarfilm „Ai Weiwei: Never Sorry“ (2012) von Alison Klayman gesehen hat, der kann sich meine Rührung in diesem Moment vorstellen.
Zusammen mit den Kunstsammlern Uli und Rita Sigg traf ich den wohl berühmtesten chinesischen Künstler der Gegenwart in einem Restaurant. Statt des umtriebigen Aktivisten begegnete ich einer sehr ruhigen Persönlichkeit, welche ganz vom Schreiben seines neuesten Buches absorbiert ist. Ai Weiwei hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Lebensgeschichte seines Vaters, des berühmten und zeitweise verbannten Dichters Ai Qing (1910–1996) festzuhalten. Die Geburt seines Vaters im Jahr 1910 sowie die Geburt seines eigenen Sohnes im Jahr 2009 hätten ihm bewusst gemacht, dass seine Familiengeschichte ein ganzes Jahrhundert umfasse. Grund genug also, sie für die interessierte Öffentlichkeit zu dokumentieren. Während unserer Unterhaltung kamen immer wieder junge Fans vorbei, welche sich mit Ai Weiwei fotografieren lassen wollten und Zeugnis davon geben, wie sehr sein kritisches Denken in China von der jungen Generation geschätzt wird.
Diese für mich denkwürdige wenn auch kurze Begegnung geschah im Rahmen der Ausstellungsvorbereitung von „Chinese Whispers“, welche ab Februar 2016 im Kunstmuseum Bern und im Zentrum Paul Klee gleichzeitig gezeigt wird. Es ist sozusagen die „Abschiedsvorstellung“ für die Sammlung von Rita und Uli Sigg, welche ab Ende 2018 permanent im neugebauten Museum M+ in Hongkong präsentiert werden wird. Für „Chinese Whispers“ besuchten wir die Ateliers vieler Künstler, die wir für den Katalog interviewten. Für die Begleitpublikation sollen nebst ausgewiesenen Kennern der chinesischen Gegenwartskunst auch die Künstler und Künstlerinnen selbst zu Worte kommen. Denn in einer globalen Welt geht es nicht nur um die westliche Sicht, sondern auch um interkulturelle Übersetzungen.
Nebst den Menschen hinterliess die Stadt Beijing den grössten Eindruck auf mich: eine Stadt mit 20 Mio. Einwohnern, von denen fast alle ein neues Auto besitzen und damit chronisch die sechs Ringstrassen, welche um das Zentrum herum führen, verstopfen. Eine Megacity, deren Grundwasserspiegel jedes Jahr um einen halben Meter absinkt und deren nördlicher Schutzwald gegen die Sandstürme aus der Wüste Gobi nun wieder abgeholzt wird, weil ansonsten der Smog gar nicht mehr weggeht. Eine Stadt, in der weder das Wasser noch die Milch sorglos getrunken werden können, und selbst biologisch angebautes Gemüse mit Misstrauen beäugt wird. Eine Stadt wiederum, welche in den letzten zwanzig Jahren mit einer solchen Verve umgestaltet wurde, dass kein Stein auf dem anderen blieb und man sich in „good old Europe“ wie in einem Museum vorkommt. Auch von solchen Erfahrungen wird die Ausstellung berichten.
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Schlagwörter: China