Publiziert am 6. Juni 2014 von Etienne Wismer

Bilder, Wörter und Dampflokomotiven

Das «Fenster zur Gegenwart», der Ausstellungsraum des Kunstmuseums Bern im benachbarten PROGR, zeigt ab dem 5. Juni 2014 zeichnerische Arbeiten des US-amerikanischen Künstlers Raymond Pettibon.

Der grosse internationale Erfolg des zunächst als Gestalter von Plattencovers für Punkbands und mit Fanzines in Eigenauflage in Erscheinung tretenden Künstlers ist im Wesentlichen durch eine Gruppenausstellung vorbereitet worden, in der Pettibon 1992 die Wände eines Raums vom Boden bis zur Decke mit Tusche-Zeichnungen vollgehängt hatte. Die Menge an Blättern an der Wand, die immer umfangreicheren Gruppen von Zeichnungen welche mit einer Nadel einfach an die Wand geheftet worden waren, irritierten und liessen sich nicht ohne Weiteres erschliessen. Die vielen Texte, die zu seinen Zeichnungen gehören, verweigerten sich dem schnellen Zugriff ohnehin. Das vieldeutige Ineinandergreifen von Bild und Text schlussendlich, mit welchem Pettibon oftmals assoziiert wird, begründete ein wachsendes Interesse von Kreisen ausserhalb der Subkultur und Comic-Rezeption. Denn Pettibons Texte entziehen sich einer Festlegung auf einen Standort, der Angabe eines Ziels oder der Identifizierung einer Person.

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Raymond Pettibon, ohne Titel (He jumped while), 1986. Tusche auf Papier, 28 x 37 cm, Kunstmuseum Bern, Stiftung Kunsthalle Bern. © Der Künstler

Die in schwarzer Tusche gehaltene Zeichnung He jumped while (1986) zeigt eine anrasende Dampflokomotive in comicstripartig pointierter Verkürzung, isoliertem Bildfeld und starkem grafischen Kontrast. Der als eine Art Bildüberschrift prangende Satz “He jumped while she took to the rails” – “Er sprang, während sie sich auf die Geleise begab” legt nahe, dass hier ein Selbstmord begangen wird. Die im weissen Qualm des Kamins erscheinende Aussage “She’s on that train somewheres” – “Sie ist irgendwo in diesem Zug” könnte gar als bereits vollzogene Einverleibung des Menschen durch die Maschine gelesen werden. Ein Ereignis zwischen Goyas “Erschiessung der Aufständischen” (1814) und Turners “Rain, Steam and Speed” (1844).

Während die Zeichnung als blosse Illustration der eigenartig klingenden Erzählstimme verstanden zu werden droht, erblickt das Auge die unterste, durch einen Strich zum Bild gezogene Zeile, die eigentliche Beschreibung des Bildes und liest: “The stock-market crash of 1929 put that desperate look in her eye” – “Der Börsencrash von 1929 gab ihr diesen verzweifelten Blick im Auge”. Der historische Kontext mag als Vorwand für das Gezeigte dienen, doch in welchem Bezug steht die fiktive Person resp. ihr Auge zur Lokomotive. Wer ist “Sie”? Und woher stammt dieser eigenartige Klang einer Stimme? Zu wem spricht sie? In dieser ambivalenten Bild- und Textanlage geht es Pettibon weder um die Vermeidung einer konkreten Aussage noch um willkürliche Behauptungen oder Übertreibungen, sondern eher um eine Entwertung der Urteilssysteme, die in der Gesellschaft arbeiten. Er sucht eine Bewegung, einen kurzfristigen Zwischenraum, der das Denken und Geschehen einer Situation vorübergehend anders orientiert.

Die Ausstellung im PROGR bietet die Gelegenheit, diese Zeichnung im Kontext von 23 weiteren Papierarbeiten Pettibons aus der Zeit zwischen 1986 und 1993 zu sehen und über das Einzelblatt hinausgehende Bezüge zu schaffen.

Veröffentlicht unter Kunst aus 1. Hand
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Etienne Wismer

Etienne Wismer ist Kunsthistoriker und Co-Kurator der Ausstellung «Alles zerfällt. Schweizer Kunst von Böcklin bis Vallotton». Zurzeit ist er Doktorand am Institut für Kunstgeschichte der Universität Bern.

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