ALLES ZERFÄLLT: WERKE IM FOKUS #7 – RAPHAEL RITZ, INGENIEURE IM GEBIRGE
Ferdinand Hodlers Gemälde Aufstieg und Absturz sind Schlüsselwerke der Ausstellung Alles zerfällt. Schweizer Kunst von Böcklin bis Vallotton und halten den Moment grösstmöglicher Spannung zwischen dem narzisstischen Selbstbewusstsein des Menschen und seiner extremen Verletzlichkeit fest. Hodler schuf diese Meisterwerke 1894, während Sigmund Freud – eine weitere, im Kontext dieser Ausstellung wichtige Figur – im Jahr 1917 über die drei grossen Kränkungen des Menschen schrieb. Der Dialog zwischen den präsentierten Kunstwerken und Freuds Theorie ist zentrales Element des Ausstellungskonzepts. Angesichts der Corona-Krise zeigt sich nun, dass die im Kontext der Ausstellung aufgeworfenen Fragen plötzlich sehr aktuell sind. Das neue Virus scheint so unbekannt, trügerisch, allgegenwärtig und heftig zu sein, dass es den Stolz der Menschen des 21. Jahrhunderts untergräbt und unsere Vorstellung, alles im Griff zu haben und zu beherrschen, als Illusion entlarvt. Die Krise beweist, wie falsch wir lagen. «Alles zerfällt» ist zwar die Ausstellung einer historischen Sammlung, sie wird nun aber auf seltsame Weise zu einem Spiegel und einem lebendigen Kommentar zu der uns umgebenden Realität.
Mit den Beiträgen von Studierenden der Universität Bern und von jungen Kunsthistoriker*innen soll die Diskussion über die Themen und Thesen der Ausstellung angefacht und weiterentwickelt werden. Die Schreibenden erläutern die Kunstwerke, befragen sie aber auch und schlagen neue Lesarten vor. Dabei wird deutlich, dass die Sammlung des Kunstmuseums Bern keine statische Masse ist, sondern ein gewaltiger und dynamischer Speicher, dessen Erforschung verborgene Geschichten und neue, mit den sich verändernden Umständen einhergehende Deutungsmöglichkeiten offenbart.
Raphael Ritz, Ingenieure im Gebirge, 1870
Die Bergwelt war nicht seit jeher ein für den Menschen zugängliches Gebiet. Jahrhunderte lang dominierten Furcht und Mythen die Vorstellung der Menschen über die alpine Natur und hinderten sie daran, diese zu entdecken. Mit der Aufklärung und der im 18. Jahrhundert entstehenden Hochgebirgsforschung wurde diese Furcht überwunden und das Hochgebirge wissenschaftlich sowie ästhetisch neu entdeckt und erschlossen.[1] Das Gemälde Ingenieure im Gebirge (1870) von Raphael Ritz (1829-1894) widerspiegelt mit seinem Titel und Inhalt die Bewegung der Bergexpeditionen.
Das Werk des Walliser Malers zeigt zwei ältere Männer, die auf einem Felsvorsprung um eine Feuerstelle sitzen. Trotz der unwirtlichen Verhältnisse, die an den dick eingehüllten Körpern und der sich am Feuer wärmenden Geste nachempfunden werden können, scheinen sie sich behaglich eingerichtet zu haben. Über dem Feuer, das von einem davor kauernden Knaben geschürt wird, hängt ein Kochtopf und in der Glut ist eine Messingkanne platziert. Auch Gerätschaften wie zwei Holzfässchen und Messlatten, die am rechten Bildrand am Boden erkennbar sind, wurden mit auf den Berg transportiert und lassen vermuten, dass es sich bei den Männern um die erwähnten Ingenieure handelt. Die in den Jahrhunderten davor empfundene Ehrfurcht und Angst vor der Bergwelt scheint durch den technischen Fortschritt überwunden.[2] Auch der in den Berg gebaute Hütteneingang, vor dem sich ein weiterer Knabe auf einen Felsen stützt, zeugt von einer menschlichen Tätigkeit am Berg.
Die aktive Vermessung der Landschaft wird nicht von den rastenden Ingenieuren an der Feuerstelle durchgeführt, sondern findet im Hintergrund statt. Die Bildkomposition wird durch eine Diagonale geteilt, wobei die obere linke Seite in einer Nebelwolke aufgeht. In dieser sind die gespenstischen Umrisse zweier weiterer Personen zu erkennen. Die eine steht dick eingehüllt vor einem Messgerät, welches mit einem fernrohrartigen Aufsatz in den bedeckten Himmel zielt. Die andere Person verschwindet fast gänzlich im Nebel und lässt den Betrachtenden eine weitere Vermessung erahnen. Ungewiss ist auch, wohin das zu sehende Gerät zielt und in welcher Bergregion sich die Männer befinden. Nur an einer Stelle links oben lichtet sich die Wolkendecke und gibt den Blick auf eine verschneite Bergspitze frei.
In Ritz’ Gemälde steht nicht der „erhabene Berg“[3] im Zentrum, sondern der Mensch und dessen Eingriff an ihm. Doch der Entdeckungsvorgang ist in Nebel getaucht und es ist fraglich, ob genaue Ergebnisse erzielt werden können. Dieses Vorantasten in einem bis anhin unbekannten Gebiet lässt sich mit der zeitgleich beginnenden Untersuchung der menschlichen Psyche vergleichen. Verhüllt sind nach der Freud’schen Psychoanalyse, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts etabliert, auch Triebe des menschlichen Unterbewusstseins.[4] Die bis anhin verfolgte These, der Mensch habe die Kontrolle über seinen Verstand, zerfällt mit der Entdeckung des Unterbewusstseins. Jenes erweist sich als so umfassend und schwer zugänglich wie ein Bergmassiv und scheint in seiner Gesamtheit nicht erfassbar. Es widerspiegelt sich die Ungewissheit der auf dem Felsvorsprung ausharrenden Gruppe – Was kommt durch die Forschungsergebnisse zum Vorschein und was wird sichtbar, wenn sich der Nebel lichtet?
Raphael Ritz
Geboren 1829 in Brig, gestorben 1894 in Sitten. Nach einer Malerlehre in Stans studierte Ritz von 1853–56 an der Kunstakademie Düsseldorf, die in der Genre- und Landschaftsmalerei als führend galt. Rückkehr von Düsseldorf nach Sitten im Jahr 1866. Ritz unternahm auch vor seiner Rückkehr in die Schweiz immer wieder Wanderungen für Studien von Landschaft und Volksbrauch im Wallis. Er selbst definierte im Jahre 1859 sein Lebenswerk als „das schweizerische landschaftliche idyllische Genre“.[5]
[1] Walter, François: „Die “Entdeckung” der Alpen“, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 17.07.2013, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008569/2013-07-17/#HDie22Entdeckung22derAlpen (Zugriff vom 07.04.2020).
[2] Flubacher, Christophe, Les peintres en Valais, Lausanne: Éditions Favre SA, 2003, hier S. 40.
[3] Ozturk, Anthony, „Interlude: Geo-Poetics: The Alpine Sublime in Art and Literature, 1779-1860“, in: Heights of Reflection. Mountains in the German Imagination from the Middle Ages to the Twenty-First Century, hrsg. von Ireton, Sean und Schaumann, Caroline, Rochester, New York: Camden House, 2012, S. 77-98, hier S. 78.
[4] Ermann, Michael, Freud und die Psychoanalyse. Entdeckungen, Entwicklungen, Perspektiven, Stuttgart: W. Kohlhammer GmbH, 2008, hier S. 32.
[5] Perren, Fabian, „Raphaël Ritz“, in: SIKART Lexikon zur Kunst in der Schweiz, http://www.sikart.ch/KuenstlerInnen.aspx?id=4022945 (Zugriff vom 11.10.2019).
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Schlagwörter: Alles zerfällt, Lockdown, Schweizer Kunst