Alles zerfällt: Werke im Fokus #4 – Gabriel Loppé, das Matterhorn
Ferdinand Hodlers Gemälde Aufstieg und Absturz sind Schlüsselwerke der Ausstellung Alles zerfällt. Schweizer Kunst von Böcklin bis Vallotton und halten den Moment grösstmöglicher Spannung zwischen dem narzisstischen Selbstbewusstsein des Menschen und seiner extremen Verletzlichkeit fest. Hodler schuf diese Meisterwerke 1894, während Sigmund Freud – eine weitere, im Kontext dieser Ausstellung wichtige Figur – im Jahr 1917 über die drei grossen Kränkungen des Menschen schrieb. Der Dialog zwischen den präsentierten Kunstwerken und Freuds Theorie ist zentrales Element des Ausstellungskonzepts. Angesichts der Corona-Krise zeigt sich nun, dass die im Kontext der Ausstellung aufgeworfenen Fragen plötzlich sehr aktuell sind. Das neue Virus scheint so unbekannt, trügerisch, allgegenwärtig und heftig zu sein, dass es den Stolz der Menschen des 21. Jahrhunderts untergräbt und unsere Vorstellung, alles im Griff zu haben und zu beherrschen, als Illusion entlarvt. Die Krise beweist, wie falsch wir lagen. «Alles zerfällt» ist zwar die Ausstellung einer historischen Sammlung, sie wird nun aber auf seltsame Weise zu einem Spiegel und einem lebendigen Kommentar zu der uns umgebenden Realität.
Bis die Ausstellung wieder für das Publikum geöffnet sein wird, möchten wir trotz der physischen Einschränkungen zumindest virtuell Einblick in «Alles zerfällt» geben und Ihnen in der begonnenen Blog-Serie weitere Werke der Ausstellung vorstellen. Mit den Beiträgen von Studierenden der Universität Bern und von jungen Kunsthistoriker*innen soll die Diskussion über die Themen und Thesen der Ausstellung angefacht und weiterentwickelt werden. Die Schreibenden erläutern die Kunstwerke, befragen sie aber auch und schlagen neue Lesarten vor. Dabei wird deutlich, dass die Sammlung des Kunstmuseums Bern keine statische Masse ist, sondern ein gewaltiger und dynamischer Speicher, dessen Erforschung verborgene Geschichten und neue, mit den sich verändernden Umständen einhergehende Deutungsmöglichkeiten offenbart.
Gabriel Loppé, Das Matterhorn, 1867
Der französische Maler und Alpinist Gabriel Loppé (1825–1913) malte das Matterhorn etwa zwei Jahre nach dessen Erstbesteigung 1865. Das Matterhorn stellte zur Zeit der Entstehung des Gemäldes also nicht mehr die grosse Unbekannte am Horizont dar, sondern war ein Quell der Neugier und der alpinistischen Herausforderung.
Loppés komplexe Gebirgslandschaft ist in drei Ebenen unterteilt: Während das Matterhorn im Hintergrund über das Gletschertal emporragt, nimmt die Gletscherformation den ganzen Mittelgrund in Anspruch und drängt sich bis in den Vordergrund, wo zwei Menschen auf der Bergkante erkennbar sind. Sie befinden sich am unteren Ende einer diagonalen Leserichtung, die von der rechten Kante des Matterhorns oben im Bild steil nach unten über die tiefe Gletscherfurche zum Standpunkt der menschlichen Figuren führt. Der Blick der am Rande des Abgrunds innehaltenden Bergsteiger auf das Matterhorn wird somit mit der gesamten Bandbreite an erfahrbaren Höhen und Tiefen der Naturgewalt konfrontiert: Während sich die Matterhornspitze scharf vor dem Grau des Himmels abzeichnet, verliert sich die Tiefe der Gletscherpalte in einem unendlichen Schwarz. Das Gefühl der Ehrfurcht vor der zu erklimmenden Spitze vermischt sich mit der Angst, verschluckt zu werden.
Das Erklimmen eines Gipfels galt seit dem Spätmittelalter als Moment der menschlichen Verwirklichung. Der italienische Dichter Francesco Petrarca beschreibt in seinem Brief Die Besteigung des Mont Ventoux von 1336 die Bergbesteigung als tiefgreifende Erfahrung, die es ihm ermöglicht, irdische Dinge hinter sich zu lassen, «den Geist in höhere Sphären zu versetzen» und so gottähnlich zu werden.[1] Die Besteigung des Berges wurde damit zur Metapher eines anthropozentrischen Weltbildes und der menschlichen Subjektwerdung par excellence. Es ist die Geburtsstunde einer Ikonographie à la Caspar David Friedrich, in der sich das (männliche) Subjekt in die Mitte des Bildes als Alles überblickendes und überragendes Wesen setzt.
Die zwei Bergsteiger auf Loppés Gemälde sind jedoch nicht die Protagonisten des Bildes. Sie sind kaum identifizierbar und verschwinden fast in der Landschaft. Sie dienen lediglich als Referenz, die die Dimensionen der Naturgewalt in die Vorstellung der Betrachter*innen ruft und diese in Staunen versetzt. Die menschliche Subjektivität scheint angesichts der extremen Naturerscheinungen vernachlässigbar. Der Mensch steht nicht mehr im Zentrum des Universums, sondern muss sich mit dem Status einer Randerscheinung begnügen. Loppés Gletscherlandschaft wird so zur Metapher eines Bruches, einer Fraktur im menschlichen Subjekt, welches sich angesichts der Kräfte der Natur nicht mehr als Krone der Schöpfung erkennen kann. Seine Krönung, seine Apotheose, bleibt in Loppés Gemälde eine weit entfernte Phantasie: Vielmehr sieht sich das menschliche Subjekt auf dem Weg seiner Vollendung am Rande des Abgrunds mit der Möglichkeit seiner Vernichtung konfrontiert. Die tiefschwarze Spalte, die sich zwischen den Bergsteigern und ihrem anvisierten Ziel öffnet, zieht alle Aufmerksamkeit auf sich und ist wie ein Riss in der Leinwand. Die menschliche Unzulänglichkeit klafft in der Mitte des Bildes, wie eine schmerzhafte Wunde.
Gabriel Loppé
Geboren 1825 in Montpellier, gestorben 1913 in Genf. Er verbrachte lange Zeit in der Schweiz und war mit dem bekannten Landschaftsmaler Alexandre Calame befreundet. Neben der Malerei betätigte er sich als Alpinist und Fotograf.
[1] Petrarca, Francesco, Die Besteigung des Mont Ventoux, Stuttgart: Philipp Reclam, 1995, S. 50-60.
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