Publiziert am 16. Juli 2020 von Olivia Baeriswyl

ALLES ZERFÄLLT: WERKE IM FOKUS # 14 – LOUISE CATHERINE BRESLAU, DER FÜNFUHRTEE

Ferdinand Hodlers Gemälde «Aufstieg» und «Absturz» sind Schlüsselwerke der Ausstellung Alles zerfällt. Schweizer Kunst von Böcklin bis Vallotton und halten den Moment grösstmöglicher Spannung zwischen dem narzisstischen Selbstbewusstsein des Menschen und seiner extremen Verletzlichkeit fest. Hodler schuf diese Meisterwerke 1894, während Sigmund Freud – eine weitere, im Kontext dieser Ausstellung wichtige Figur – im Jahr 1917 über die drei grossen Kränkungen des Menschen schrieb. Der Dialog zwischen den präsentierten Kunstwerken und Freuds Theorie ist zentrales Element des Ausstellungskonzepts. 

Mit den Beiträgen von Studierenden der Universität Bern und von jungen Kunsthistoriker*innen soll die Diskussion über die Themen und Thesen der Ausstellung angefacht und weiterentwickelt werden. Die Schreibenden erläutern die Kunstwerke, befragen sie aber auch und schlagen neue Lesarten vor. Dabei wird deutlich, dass die Sammlung des Kunstmuseums Bern keine statische Masse ist, sondern ein gewaltiger und dynamischer Speicher, dessen Erforschung verborgene Geschichten und neue, mit den sich verändernden Umständen einhergehende Deutungsmöglichkeiten offenbart.

Louise Catherine Breslau, Der Fünfuhrtee, 1883, Öl auf Leinwand, 150,5 x 151,5 cm. Depositum der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Bundesamt für Kultur, Gottfried Keller-Stiftung

Louise Catherine Breslau, Der Fünfuhrtee, 1883, Öl auf Leinwand, 150,5 x 151,5 cm. Depositum der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Bundesamt für Kultur, Gottfried Keller-Stiftung

 

Louise Catherine Breslau, Der Fünfuhrtee, 1883
Sanft, vertraut, lieblich – eine Pariser Ausstellungsbesprechung von 1905 zu Louise Catherine Breslaus Oeuvre (geb. 1856 in München) entwirft eine romantisierte Auffassung weiblicher Malerei und gemalter Interieurs gleichermassen.[1] Als Enklave in der lauten und beängstigenden Grossstadt gewinnen das bürgerliche Heim und seine Ausstattung im 19. Jahrhundert an Bedeutung. Anstatt in der Natur werden Rückzug und Erholung nunmehr in den eigenen vier Wänden gesucht.

Auch die künstlerische Wiedergabe des Interieurs, die sich in eine lange Tradition von Zimmeransichten einschreibt, ist verbreitet. In Breslaus Der Fünfuhrtee (1883) sitzt eine kleine Runde vor einem Kaminfeuer zum Tee beisammen. Vor dem opulenten, golden umrahmten Spiegel zeigen die filigranen Zeiger einer Uhr kurz nach fünf. Die Dekorgegenstände – die exotischen Fächer, das Blumengesteck – spiegeln gesellschaftliche Entwicklungen der Zeit. Durch das grosse Interesse an der menschlichen Psyche, eine immer ausgeprägtere Individualisierung und nicht zuletzt durch den Absatzmarkt massenproduzierter Gegenstände, wächst der Anspruch auf Privatsphäre und persönlichen Ausdruck in der Einrichtung. Es wird ein Mikrokosmos geschaffen, der durch Vorhänge vom Aussen abgeschirmt und geschützt wird und mit tiefen Decken und gemütlichen Erkern Geborgenheit erzeugen soll.[2] Mit ihrem empfindsamen Naturell scheint die Frau des Hauses prädestiniert für diese Aufgabe – und soll so, unterstützt durch die zahlreich erhältlichen Dekorationsratgeber, das Patriarchat aktiv mitaufrecht erhalten.[3] Der Künstlerin des 19. Jahrhunderts kommt dabei eine besondere Rolle zu: Als Subjekt gestaltet sie das Heim nicht nur, sondern stellt es auch dar. Das Interieur gehört zu ihren Hauptmotiven, denn hierzu hat sie Zugang.[4]

Doch feministische Bestrebungen, sexuelle Diversität und vermehrt alleinstehende, arbeitstätige Frauen tragen dazu bei, dass sich die Geschlechtergrenzen und die geschlechtsspezifischen Aufgabenbereiche allmählich verwischen. Die Heteronormativität als Pfeiler des idyllischen Heims beginnt zu bröckeln.[5] Gegenbewegungen, unterstützt durch die Psychiatrie, schreiben der Frau derweil eine besondere Anfälligkeit für Neurosen zu – die Hüterin des Interieurs wird zum Tor für den Wahnsinn. Verunsicherung und Leere sickern ins Innere, und das Heim wird zum Ort des Unheimlichen.[6] Bis anhin lauschige Elemente wirken plötzlich beklemmend und bedrohlich: der lodernde Kamin, der verzerrende Spiegel, die düstere Enge. So kippt auch in Breslaus gedrängtem Bildausschnitt die nachmittägliche Idylle. Individualisierung schlägt um in Vereinzelung, und jede Figur dieses Stücks bleibt in ihrem eigenen, inneren Refugium versunken.

 

Louise Catherine Breslau
Geboren 1856 in München, gestorben 1927 in Neuilly-sur-Seine. Ausbildung in Zürich und an der Pariser Académie Julian. War vor allem in ihrer Wahlheimat Frankreich eine gefeierte Porträtistin und erfolgreich an internationalen Ausstellungen beteiligt.

[1] Hovelaque, Emile, «Artistes Contemporains. Mademoiselle Louise Breslau», in: Gazette des Beaux-Arts, 2/34, Paris, 1905, S. 196.
[2] Muthesius, Stefan, The Poetic Home. Designing the 19th-Century Domestic Interior, London: Thames & Hudson, 2009, S. 155–200.
[3] Tiersten, Lisa, «The Chic Interior and the Feminine Modern. Home Decorating as High Art in Turn-of-the-Century Paris», in: Reed, Christopher (Hg.), Not at Home. The Suppression of Domesticity in Modern Art and Architecture, S. 18–32.
[4] Vgl. Pollock, Griselda, Vision and Difference. Femininity, Feminism and  the Histories of Art, London: Routledge, 2008 (1988), S. 70–127.
[5] Showalter, Elaine, Sexual Anarchy. Gender and Culture at the Fin de Siècle, New York: Viking, 1990, S. 19 und 3.
[6] Freud, Sigmund, «Das Unheimliche», in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften, 5, 1919, S. 297–324.

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Olivia Baeriswyl

Kunsthistorikerin mit Fokus auf medientheoretische und kulturhistorische Fragestellungen. Seit 2018 beim Verlag Scheidegger & Spiess als Projektleiterin tätig.

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