ALLES ZERFÄLLT: WERKE IM FOKUS #11 – FÉLIX VALLOTTON, C’EST LA GUERRE
Ferdinand Hodlers Gemälde «Aufstieg» und «Absturz» sind Schlüsselwerke der Ausstellung Alles zerfällt. Schweizer Kunst von Böcklin bis Vallotton und halten den Moment grösstmöglicher Spannung zwischen dem narzisstischen Selbstbewusstsein des Menschen und seiner extremen Verletzlichkeit fest. Hodler schuf diese Meisterwerke 1894, während Sigmund Freud – eine weitere, im Kontext dieser Ausstellung wichtige Figur – im Jahr 1917 über die drei grossen Kränkungen des Menschen schrieb. Der Dialog zwischen den präsentierten Kunstwerken und Freuds Theorie ist zentrales Element des Ausstellungskonzepts.
Mit den Beiträgen von Studierenden der Universität Bern und von jungen Kunsthistoriker*innen soll die Diskussion über die Themen und Thesen der Ausstellung angefacht und weiterentwickelt werden. Die Schreibenden erläutern die Kunstwerke, befragen sie aber auch und schlagen neue Lesarten vor. Dabei wird deutlich, dass die Sammlung des Kunstmuseums Bern keine statische Masse ist, sondern ein gewaltiger und dynamischer Speicher, dessen Erforschung verborgene Geschichten und neue, mit den sich verändernden Umständen einhergehende Deutungsmöglichkeiten offenbart.
Félix Vallotton, La tranchée, 1915 (Blatt 1 der Folge C’est la Guerre)
Zwischen Ende 1915 und Anfang 1916 fertigte der schweizerisch-französische Künstler Félix Vallotton (1865 – 1925) unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs eine Serie von schwarz-weissen Holzschnitten auf Velinpapier an. Die Bildfolge C’est la Guerre besteht aus sechs Blättern: La tranchée (1915), L’orgie (1915), Les fils de fer (1916), Dans les ténèbres (1916), Le guetteur (1916) und Les civils (1916). Auf das Titelblatt hat Vallotton mit roter Tusche Blut tropfen lassen.
Im Zentrum des ersten Blattes La tranchée steht ein eruptiver Granateinschlag. Erde wird hochgerissen. Das flächige Schwarz der Nacht wird einzig durch Feuer und Qualm auf dem Schlachtfeld durchbrochen. Das umgebende Niemandsland ist zerbombt und gleicht nur noch einer Mondlandschaft. Der Vordergrund ist durchzogen von kleinen Halbkreisen und kurzen, vertikalen Strichen. Erst bei näherem Hinsehen erkennt man Menschen und Bajonette und erinnert sich an den Titel der Blattfolge. Das Wortspiel von tranchée (frz. Schützengraben) und trancher (frz. zerlegen/abschlagen) unterstreicht die beispiellose Brutalität des Grossen Krieges. In Anlehnung an Freuds drei grosse Kränkungen der Menschheit zeichnet sich im Krieg eine vierte ab: die Entmenschlichung. Alles zerfällt.
Vallotton war 1915 selbst noch nie an der Front gewesen. Seine Serie basiert auf Fotografien, Zeitungsillustrationen oder Bildern aus Wochenschauen. Erst im Juni 1917 geht er im Zuge einer «offiziellen Mission» im Auftrag der französischen Regierung als Kriegsillustrator an die Front in der Champagne. [1]
La tranchée ist keine Demaskierung eines schrecklichen Krieges, der Millionen von Menschen das Leben kostet. Und doch fühlt man sich durch den Anblick der Soldaten im Moment der Detonation in den Krieg hineingezogen. Vallotton schafft ohne Farbe und ohne Details einen Holzschnitt, bei dem man merkt, dass er den Krieg aus einer rein künstlerischen Perspektive betrachtet, nüchtern und ohne zu werten. Die Tagebucheinträge seiner Zeit an der Front sind geprägt von Zynismus: Bombardements werden als «un air de fête» und Artilleriegranaten «joli à voir» bezeichnet. Wiederspiegeln Vallottons Aufzeichnungen den gekränkten Narzissmus einer Gesellschaft der Moderne? [2]
Ein Krieg spaltet und tranchiert Gesellschaften. Das Individuum wird Teil einer Gruppe, einer Masse ohne Mittelpunkt. Es ist eben dieses Ausgeliefertsein, das der Psychoanalytiker Sigmund Freud dem Menschen als wesentliche Befindlichkeit diagnostiziert. Der Kollaps der zentralisierten Ordnung führt zum Radikalismus eines Krieges. Und es ist der Krieg, in dem jeder auf sich allein gestellt ist. La tranchée drückt die Angst aus, komplett auf sich allein gestellt zu sein.
Félix Vallotton
Geboren 1865 in Lausanne. Ging 1882 nach Paris, trat in die Académie Julian ein und war später Teil der Künstlergruppe Nabis. Wurde 1900 französischer Staatsbürger. Ab 1920 verbrachte er den Winter für Kuraufenthalte im südfranzösischen Cagnes. 1925 erlag er in Paris einem Krebsleiden.
[1] Werner, Eden und Elend. Félix Vallotton: Maler, Dichter, Kritiker, Zürich: Verlag Neue Züricher Zeitung, 1998, hier S. 63.
[2] Félix Vallotton. Documents pour une biographie et pour l’histoire d’une œuvre, Gilbert Guisan und Doris Jakubec (Hrsg.), Lausanne/Paris: La Bibliothèque des arts, 1973–75, Bd. 3 (I: 1884-1899; II: 1900-1914; III: Journal 1914-1921), hier S. 166-167.
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Schlagwörter: Alles zerfällt, Schweizer Kunst