Publiziert am 27. Mai 2020 von Julia Strobel

ALLES ZERFÄLLT: WERKE IM FOKUS #10 – ERNST KREIDOLF, DAS LEBEN EIN TRAUM

Ferdinand Hodlers Gemälde «Aufstieg» und «Absturz» sind Schlüsselwerke der Ausstellung Alles zerfällt. Schweizer Kunst von Böcklin bis Vallotton und halten den Moment grösstmöglicher Spannung zwischen dem narzisstischen Selbstbewusstsein des Menschen und seiner extremen Verletzlichkeit fest. Hodler schuf diese Meisterwerke 1894, während Sigmund Freud – eine weitere, im Kontext dieser Ausstellung wichtige Figur – im Jahr 1917 über die drei grossen Kränkungen des Menschen schrieb. Der Dialog zwischen den präsentierten Kunstwerken und Freuds Theorie ist zentrales Element des Ausstellungskonzepts. 

Mit den Beiträgen von Studierenden der Universität Bern und von jungen Kunsthistoriker*innen soll die Diskussion über die Themen und Thesen der Ausstellung angefacht und weiterentwickelt werden. Die Schreibenden erläutern die Kunstwerke, befragen sie aber auch und schlagen neue Lesarten vor. Dabei wird deutlich, dass die Sammlung des Kunstmuseums Bern keine statische Masse ist, sondern ein gewaltiger und dynamischer Speicher, dessen Erforschung verborgene Geschichten und neue, mit den sich verändernden Umständen einhergehende Deutungsmöglichkeiten offenbart.

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Ernst Kreidolf, Das Leben ein Traum, 1. Fassung, 1889, Öl auf Leinwand, 48 x 62 cm. Kunstmuseum Bern, Verein Ernst Kreidolf

 

Ernst Kreidolf, Das Leben ein Traum, 1. Fassung (1889)
Das Gemälde Das Leben ein Traum, 1. Fassung (1889) von Ernst Kreidolf (1863-1965) gewährt einen Blick auf sich drehende und miteinander interagierende Körper, als Momentaufnahme eingefroren. Ausgelassen verbringen Menschen verschiedener Altersgruppen den Abend in einer parkähnlichen Landschaft unter dunklen Bäumen. Die Gesichter bleiben unklar, durch das Skizzenhafte wirken sie verzerrt. Im Vordergrund spielen Kinder, im Zentrum halten sie sich an den Händen und drehen sich im Kreis. Zwei Gruppen von Erwachsenen umgeben sie. Sie reden miteinander, beugen sich zueinander und fassen sich an den Armen. Schwarz gekleidete Personen am rechten Bildrand wenden sich vom Trubel ab. Die Bäume geben am Horizont die Sicht auf architektonische Elemente frei. Vielleicht ein kleines Haus im Park, vielleicht auch schon die ersten Häuser der Stadt.

Kreidolfs Gemälde ist eine Studie für ein grösseres Gemälde desselben Titels, das zwischen 1893 und 1930 entsteht und in dem das Motiv der drei Lebensalter des Menschen verarbeitet wird. Die hier vorgestellte Fassung trägt zunächst den Titel Jugendtraum, den Kreidolf jedoch rückwirkend als erste Fassung des inzwischen fertiggestellten Gemäldes Das Leben ein Traum deklariert.[1] Bevor Kreidolf mit der Arbeit an diesem Gemälde begann, litt er an Augenmigräne. Seine Augen versuchten, sich den Eindrücken der Stadt zu verschliessen. Während mehrerer Aufenthalte auf dem Land gesundete er, sobald er jedoch wieder in der Stadt war, verschlechterte sich sein Gesundheitszustand. Dies wurde von seinen Ärzten als Überarbeitung oder nervöses Flimmern eingeordnet. Kreidolf hatte schliesslich eine erfolgreiche Kur bei Pfarrer Kneipp hinter sich, bevor er mit diesem Gemälde begann.[2]

Die Erfahrung des schädlichen Stadtlebens, dem er das gesunde Landleben gegenüberstellt, lässt sich in den vorherrschenden Diskurs der Medizin einordnen: Demzufolge leide die Bevölkerung an allgemeiner Schwäche, grosser Reizbarkeit des Nervensystems und ähnlichen Störungen. Die Triebe des Menschen würden durch die Stadt verstärkt und es folge der Kontrollverlust.[3] Die Menschen in Kreidolfs erster Fassung von Das Leben ein Traum sind in ständiger Bewegung, verschwimmen zu undeutlichen Punkten, je näher sie sich bei der Stadt befinden. Unklare Konturen und flimmernde Eindrücke beherrschen den Traum Kreidolfs. Nach Sigmund Freud tritt der Traum erst durch das Verschliessen der wichtigsten «Sinnespforten»[4], der Augen, ein. Sehen und Träumen kann nicht gleichzeitig stattfinden. Erst der Rückzug auf das Land ermöglicht ein Erwachen aus dem Traum. Die Sinnesreize, die der Künstler im Dämmerzustand in der Stadt erfährt, werden zu Traumquellen, die in seiner Bildwelt Gestalt annehmen. [5]

Ernst Kreidolf
Geboren 1863 in Bern. Besuchte die Kunstgewerbeschule in München, danach Beginn des Studiums an der Münchner Kunstakademie. Nach ersten Ausstellungerfolgen in München und Dresden folgen Einzelausstellungen in der Schweiz. 1922 wird er Mitglied der Berner Kunstgesellschaft und der Kommission für Neuerwerbungen des Kunstmuseums Bern. Kreidolf stirbt 1956 in Bern.

 

[1] Kreidolf, Ernst, Lebenserinnerungen, hrsg. von Kerhli, Jakob Otto, Zürich: Rotapfel Verlag, 1957, S. 105. Zur Darstellung der Lebensalter vgl. Mentha, Henriette, in: «Das Leben ein Traum», Kat. Ausst. Kunstmuseum Bern, hrsg. vom Verein und der Stiftung Ernst Kreidolf, Bern: Stämpfli + Cie AG, 1995, S. 94-105.
[2] Dazu aus Kreidolfs Lebenserinnerungen: «Mein gesundheitlicher Zustand verschlechterte sich damals zusehends. Ich litt immer mehr an Flimmern (Augenmigräne). Es gab Tage, an denen ich es zweimal bekam. Dann war ich für einige Tage arbeitsunfähig.» Kreidolf 1957, 91.
[3] Oesterlen, Friedrich, Handbuch der Hygieine für den Einzelnen wie für eine Bevölkerung, Tübingen: Laup, 1851, S. 575-588. Zu einer Übersicht zum medizinischen Diskurs der Stadt als Krankheitsfaktor vgl. Bleker, Johanna, Die Stadt als Krankheitsfaktor. Eine Analyse ärztlicher Auffassungen im 19. Jahrhundert, in: Medizinhistorisches Journal, 18, 1/2, Stuttgart 1983 119.
[4] Freud, Sigmund, Die Traumdeutung, Leipzig/Wien: Franz Deuticke, 1900, S. 17.
[5] Wie Anm. 2.

Veröffentlicht unter Allgemein, Blick hinter die Kulissen
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Autor

Julia Strobel

Masterstudentin der Kunstgeschichte und World Arts an der Universität Bern. 2019 Gewinnerin des VKKS-Förderpreises für den Aufsatz «Der Elefantenstuhl aus den Knochen Süleymans – Lücken innerhalb des Provenienznarrativs».

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