Publiziert am 5. Februar 2020 von Etienne Wismer

Alles zerfällt: Werke im Fokus #1- Ferdinand Hodler, Aufstieg und Absturz

Die Texte in dieser Blog-Reihe nehmen ausgewählte Werke ins Visier, die derzeit im Rahmen der Ausstellung Alles zerfällt. Schweizer Kunst von Böcklin bis Vallotton im Kunstmuseum Bern zu sehen sind. Sie erscheinen in loser Folge während der Laufzeit der Ausstellung. Mit der Idee, fortgeschrittene Studierende der Kunstgeschichte der Universität Bern sowie junge Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker zu Textbeiträgen einzuladen, soll die Diskussion über die Themen (und Thesen) der Ausstellung angefacht und weiterentwickelt werden. Die Schreibenden erläutern die Kunstwerke, befragen sie aber auch und schlagen neue Lesarten vor. Dabei wird deutlich, dass die Sammlung des Kunstmuseums Bern keine statische Masse ist, sondern ein gewaltiger und dynamischer Speicher, dessen versteckte Geschichten freigelegt werden, sobald man anfängt, sie aktiv zu erforschen.

Den Auftakt macht ein Text des Co-Kurators – Etienne Wismer – zu den zwei monumentalen und fragmentierten Gemälden Aufstieg und Absturz von Ferdinand Hodler, die in der Ausstellung zentral und nahezu omnipräsent sind. Die beiden Werke waren wichtiger Ausgangspunkt und massgebliche Inspirationsquelle für die Idee, Sigmund Freuds Theorie und Reflexion über die drei menschlichen Kränkungen als roten Faden für die Ausstellung zu nehmen.

Blog_Alles-zerfällt

Ferdinand Hodler, Aufstieg und Absturz, 1894, Öl auf Leinwand, Masse variabel, Alpines Museum der Schweiz. Depositum Schweizer Alpen-Club SAC und Depositum Gottfried Keller-Stiftung

Ferdinand Hodler, Aufstieg und Absturz, 1894

Das Matterhorn galt lange als nicht besteigbar. Am 14. Juli 1865 gelang es dem Briten Edward Whymper, zusammen mit sechs Begleitpersonen jedoch, den Gipfel zu erreichen. Den auf den Triumph der Erklimmung folgenden Abstieg überlebten allerdings nur drei Menschen, denn es kam zu einem folgenschweren Absturz. Die Erstbesteigung des Matterhorns gilt zugleich als Höhepunkt wie auch als Ende einer Epoche, in der die Bezwingbarkeit der alpinen Berggipfel im Mittelpunkt stand.

Das internationale Interesse an der Schweizer Bergwelt setzte zwar bereits im 18. Jahrhundert ein, erreichte aber erst im 19. Jahrhundert seinen Zenit. Es erstaunt deshalb nicht, dass die Schweiz an der Weltausstellung 1894 in Form eines grossen Panoramagemäldes der Alpen präsent war. Das monumentale Rundbild Panorama des Alpes Suisses war ein Gemeinschaftswerk der Schweizer Künstler Auguste Baud-Bovy, Eugène Burnand und Francis Furet und wurde in einem eigens dafür erbauten Pavillon präsentiert. Soviel wir heute wissen, wurde in diesem monumentalen Bild vollständig auf die Darstellung von Tieren und Menschen verzichtet, wohl um den Eindruck der einsamen, unberührten Alpenlandschaft noch zu steigern.

Ergänzend zum Alpenpanorama erhielt ein anderer Künstler, nämlich Ferdinand Hodler (1853-1918), den Auftrag, für den Annexbau desselben Pavillons in Antwerpen ein mehrteiliges alpines Ereignisbild zu schaffen. Hodler entschied sich für die Darstellung der beiden Motive Aufstieg und Absturz, die in Fragmenten bis heute erhalten geblieben sind. Es ist anzunehmen, dass Hodler die als Druckgrafiken weit verbreiteten Illustrationen des Matterhornunglücks von 1865 sehr wohl kannte. Doch scheinen wir es in Hodlers Gemälden nicht mit einem bestimmten Ereignis zu tun zu haben. Der Ort des Geschehens ist nicht näher definiert und auch die Zahl der Figuren weicht – vielleicht auch sehr bewusst gewählt – von derjenigen des Matterhornunglücks ab. Allerdings entsprechen Hodlers Figuren in Kleidung und Ausrüstung durchaus der Art und Weise, wie Seilschaften gerne dargestellt wurden: bärtige Bergführer begleiten hell gekleidete englische Touristen.

Das Gemälde Aufstieg zeigt sechs Alpinisten beim teilweise mühsamen Erklimmen einer Felswand. Bezeichnenderweise fehlt eine siegreich auf dem Gipfel posierende Person. Das andere Gemälde stellt den Absturz von vier Bergsteigern dar, die von einer Lawine oder einem Felssturz mitgerissen werden. Gemäss einem Zeitungsbericht plante Hodler neben Aufstieg und Absturz noch ein weiteres, drittes Gemälde. Es sollte die «Auffindung der Leichen» zeigen. Diese Darstellung wurde vom Künstler jedoch nicht umgesetzt. Sie hätten die Momente des Triumphs und der anschliessenden Tragödie um den Augenblick des bösen Erwachens ergänzt.

Hodlers Werke Aufstieg und Absturz rücken den Menschen ins Zentrum der Darstellung. Wir sehen Individuen, teilweise sogar porträtähnlich dargestellt. Während es jedoch bei der Illustration des Aufstiegs um die Form der menschlichen Subjektwerdung und im Endeffekt um die Darstellung eines anthropozentrischen Weltbildes geht, zeigt der Absturz den unmittelbar daran anschliessenden Moment des fallenden Menschen, ja des zerfallenden Subjekts.

Dieses in zwei sich gegenüberstehenden Teilen die menschliche Existenz befragende «drame de l’alpinisme» ist heute in Form von sieben Fragmenten erhalten. 1916 wurden die beiden Gemälde so zerschnitten, dass die sich daraus ergebenden Teile auch als einzelne Bilder gelesen und verkauft werden konnten. Dieser aussergewöhnliche Fall verdeutlicht nicht nur ein sich schrittweise von der ausschliesslich heroischen Darstellung der Alpen lösendes Interesse der Kunstschaffenden, sondern befragt auch die Rolle eines Kunstwerks als statisches, unveränderliches Artefakt im Kontext der vielfältigen Produktion eines Künstlers.

Veröffentlicht unter Allgemein, Experten am Werk
Schlagwörter: , ,

Etienne Wismer

Etienne Wismer ist Kunsthistoriker und Co-Kurator der Ausstellung «Alles zerfällt. Schweizer Kunst von Böcklin bis Vallotton». Zurzeit ist er Doktorand am Institut für Kunstgeschichte der Universität Bern.

Kommentare

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Bitte füllen Sie alle Felder aus.

Time limit is exhausted. Please reload the CAPTCHA.

Keine Kommentare