AFFIDAMENTO – «Si deve praticare!»
Schooling Session mit Angela Marzullo, Chantal Küng, Kathrin Siegrist.
Ein assoziatives Begegnungsprotokoll von Claudia Barth.
AFFIDAMENTO: eine feministische Praxis, die die Weitergabe von Erfahrungen, Erzählungen und Wissen über Generationen hinweg bezeichnet.
Die Teilnehmenden der Schooling Session zu AFFIDAMENTO sind Angela Marzullo, Chantal Küng, Kathrin Siegrist und ich, Claudia Barth. Wir alle sind Künstlerinnen, wir arbeiten mit Archiven oder mit Archivmaterial, mit Pseudonymen, Avataren, Alteregos. Chantal Küng und Kathrin Siegrist pflegen (curare) das Künstlerinnen-Archiv von Louise Guerra; Angela Marzullo pflegt Gespräche einiger Aktivistinnen der Rivolta Femminile in ihr eigenes wildes Archiv ein und ich pflege oder vielmehr pflüge das Fotoarchiv meiner Grossmutter.
AFFIDAMENTO als feministische Praxis aber auch als künstlerische Praxis: Wir pflegen, pflügen und bearbeiten unsere Archive, um Wissen daraus zu ziehen, um Wissen weiterzugeben.
La Rivolta Femminile (eine Gruppierung der 70er Jahre um Carla Lonzi herum) hat sich gefragt, was die feministische Ausdrucksform ist, in der sie arbeiten will: bildende Kunst oder die Schrift? Sprache als feministische Ausdrucksform, als mittel der Subversion, des Widerstands, Sprache als meine Ausdrucksform, das lag mir lange fern. Als ich gefragt wurde, diesen Bericht zu schreiben, war mein erster Gedanke: Ich mache eine Zeichnung. Ich habe mich lange nicht zuhause gefühlt in der Sprache, kaum gesprochen, kaum was erzählt, kaum geschrieben…nur gelesen. Lesen wie auch Denken empfand ich als meinen privaten Raum: ihre Gedanken – zum Beispiel diejenigen von Quinn Latimer zum Denken und Schreiben als Räum – (1), die übergehen in meine Gedanken. Ein Raum, der Denk-Raum. Von dem privaten Denk-Raum in den halbprivaten Schrift- und dann in den öffentlichen Sprech-Raum. Ein langer Weg.
«Das Private ist politisch» – eine Mappe in Angelas wildem Archiv. Dieser Slogan zierte nicht nur zahlreiche Banner und Plakate, sondern war für viele feministische Gruppierungen auch eine Aufforderung, sich in kleinen Gruppen alltägliche Probleme zu erzählen, sich aus der Vereinzelung in das Gefühl massenhafter Erfahrung zu begeben. Diese Methode hat verschiedene Namen. La Rivolta Femminile übernahm das amerikanische Konzept des «consciousness raising». In meinen Recherchen traf ich auf die «Erinnerungsarbeit» der deutschen Feministin Frigga Haug. Durch Erinnerungsarbeit sollen verborgene Prozesse der Selbstkonstruktion aufgedeckt werden. Haug beschreibt dies wie folgt: «Wie verändern, verfälschen, verdrehen die Einzelnen eigentlich die Gegebenheiten ihres Alltags und warum? Das Warum hängt mit ihrer Identität zusammen. Das soll heissen, die Menschen bauen die Gegebenheiten ihres Lebens so um, dass wir selber einigermassen widerspruchsfrei darin existieren können, handlungsfähig sind. Da eine solch widerspruchsfreie Existenz praktisch nicht möglich ist, schon gar nicht in unseren Verhältnissen und darin noch weniger für Frauen, nehmen wir an, dass die Selbstinterpretation in hohem Masse Widerspruchsfreiheit konstruiert. […] Eben diese Konstruktionen […] sind hinderlich für eine tatsächliche Realitätsbewältigung [und] verpasste oder zumindest nicht wahrgenommene Möglichkeiten zu leben. […] Uns interessiert also, wie die Einzelnen sich hineinbegeben in vorgefundene Strukturen und dabei sich selber ebenso wie die Gliederung der Gesellschaft herstellen.» (2)
Solche Gespräche, Erinnerung, Ich-Erzählungen, hat Rivolta Femminile aufgenommen…und nun sind sie in Form von Tapes bei Angelas AFFIDAMENTO!: Ihr wurde ein Teil der feministischen Geschichte anvertraut (affidamento = Vertrauen). Nun werden diese Geschichten, diese Erfahrungen transkribiert, übersetzt, einzelne Zitate herausgenommen, es wird damit gearbeitet, Erfahrungen erfahrbar gemacht, die Erfahrungen um neue Erfahrungen ergänzt, transformiert, Unterdrückungsmechanismen aufgezeigt, historische Linien, Schlüsse gezogen.
24 Stunden bevor ich diesen Bericht geschrieben habe, wurde ich auf der Strasse, aus dem nichts, mit voller Wucht, geschupst und beleidigt, weil ich eine Frau* bin, die es laut dem Angreifer nicht verdient hat, geboren worden zu sein, so wie alle anderen unseres Geschlechts.
Nochmals 24 Stunden davor kam der misogyne und faschistische Jair Bolsonaro an die Macht in Brasilien.
Erzählen wir unsere Geschichten, laut und deutlich, so dass es wehtut. Es ist höchste Zeit.
Quellen:
(1) Quinn Latimer, «Interiors: Some Stanzas on the Pleasures of Privacy», in: Like a woman, Sternberg Press, 2017.
(2) Frigga Haug, «Erinnerungsarbeit und die Langeweile in der Ökonomie», in: Erinnerungsarbeit, Argument-Verlag, 2000.
Der Workshop B-side / Back Office Feminism / Transcription Marathon von Angela Marzullo dauert noch bis zum Sonntag, 4. November.
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