Publiziert am 8. Juni 2017 von Hilar Stadler

Adolf Wölfli in Japan: Ein Königreich von 25‘000 Seiten

Ein Gespräch mit dem Kurator Tadashi Hattori über die Adolf Wölfli-Ausstellung in Japan

Das Schaffen von Adolf Wölfli wird zurzeit in einer Ausstellung an der Tokyo Station Gallery (bis 20 Juni) in Japan gezeigt. Dies ist die letzte Station einer Ausstellungsreihe, die im Hyogo Prefectural Museum of Art in Kobe startete und am Nagoya City Art Museum Station machte. Diese Tournee wurde organisiert durch das Medienhaus Chinuchi Shibun in Nagoya. Der Kunsthistoriker und Art Brut-Spezialist Tadashi Hattori, Konan University Kobe, hat das Projekt für Japan angestossen. Hilar Stadler, Konservator der Adolf Wölfli-Stiftung, führte das Gespräch mit Tadashi Hattori anlässlich der Vorbereitungen für die Ausstellung in der Tokyo Station Gallery im Mai 2017.

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Tadashi Hattori und Hilar Stadler, Tokyo Station Gallery, Tokio

Hilar Stadler: Sieben Jahre haben die Vorbereitungen für die Japantournee von Adolf Wölfli in Anspruch genommen. Nach Stationen im Hyogo Prefectural Museum of Kobe und dem Nagoya City Art Museum ist unlängst die letzte Station in der Tokyo Station Gallery eröffnet worden. Eine lange Vorbereitungszeit: Was bedeutet das Werk von Adolf Wölfli für Sie und wo legen Sie mit der Ausstellung die Schwerpunkte?

Tadashi Hattori: Mein grosses Interesse an der Art Brut / Outsider Art wurde in meinen jungen Jahren wesentlich durch das Schaffen von Adolf Wölfli angeregt. Diese Begegnung geht auf einen Besuch in der Collection de l’Art Brut in Lausanne zurück, die ich erstmals im Alter von 20 Jahren besuchte. Arbeiten von Wölfli wurden in Japan erste einige wenige Male in kleineren und mehr lokal orientierten Ausstellungen gezeigt. Die aktuelle Ausstellung ist retrospektiv angelegt. Sie will also dem japanischen Publikum einen repräsentativen Überblick über Leben und Werk des Künstlers ermöglichen.

HST: Sie gehören zu den führenden Spezialisten der Art Brut in Japan und Sie sind bestens mit der westlichen Kunstszene vernetzt. Was zeichnet aus Ihrer Sicht das Werk von Adolf Wölfli gegenüber anderen Positionen aus?

TH: Adolf Wölfli nimmt eine einzigartige Stellung innerhalb der Art Brut ein. Er hat eine schon bald symbolische Autorität erlangt, weil Jean Dubuffet nach der Entdeckung von Wölflis Werk im Jahr 1945 aber auch durch die Begegnung mit dem Schaffen von Aloïse und Heinrich Anton Müller den Begriff „Art Brut“ prägte. Aber nicht nur dies; seine eigenwillige Deutung der Welt macht ihn einzigartig, und gleiches gilt für seine unerschöpfliche Kreativität in der Erschaffung eines eigenen Universums. Sein Werk ist im Umfang beinahe unermesslich und übersteigt bei weitem die Schöpfungen anderer Künstler. Weder im Feld der Art Brut noch in der Welt der zeitgenössischen Kunst finden wir etwas Vergleichbares.

HST: Adolf Wölfli war unter anderem Zeichner, Schriftsteller und Komponist. Harald Szeemann hat ihn als Schöpfer eines „Gesamtkunstwerkes“ eingeordnet. Welchen Aspekt von Wölflis Kunst beeindruckt Sie persönlich am meisten. Können Sie uns eine bevorzugte Arbeit von Wölfli nennen?

TH: Seine Kunst ist eine umfassende Komposition vergleichbar einer Oper, die auf dem Zusammenspiel von Musik, Erzählung und Szenographie basiert . Ich bin begeistert von seinem Umgang mit den Motiven, die dicht ineinander verschlungen sind, so dass kein Leerraum entstehen kann. Persönlich bin ich fasziniert von seiner Aggressivität im Ausdruck, wie wir sie beispielsweise in der Zeichnung „Die Ermordung des Schlosser und Spengler=Gesell Albrecht Kindler, Familien=Vatter, wegen Nohtzucht“, 1911, finden. Weiterhin beeindruckt mich sehr, wie kompromisslos sich Wölfli seiner Kunst ausgesetzt hat, besonders in seinem letzten Schriftwerk, dem „Trauer-Marsch“ (1928-1930).

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Adolf Wölfli (1864 – 1930), Die Ermordung des Schlosser und Spengler=Gesell Albrecht Kindler, Familien=Vatter, wegen Nohtzucht, 1911, Bleistift und Farbstift auf Zeitungspapier, 49,7 x 37,8 cm. Adolf Wölfli-Stiftung, Kunstmuseum Bern, Bern

HST: Mehr als 30’000 Besucher haben die Ausstellung an den beiden ersten Institutionen der Japan-Tournee gesehen, und es werden noch einmal so viele in der Tokyo Station Gallery erwartet. Die erste Auflage der Begleitpublikation mit rund 6000 Kopien ist vergriffen und eine zweite ist in Vorbereitung. Wie erklären Sie sich den grossen Erfolg des Projekts in Japan?

TH: Wir können mit Berechtigung von einem grossen Erfolg sprechen, da Adolf Wölfli als Künstler vorher in Japan nahezu unbekannt war. Die Art, wie der Künstler durch seine Arbeit auf sich selbst Bezug nahm und dabei die ihn umgebende Welt ausschloss, hat für die Menschen in einer globalisierten Welt heute eine grosse Anziehungskraft. Dies trifft verstärkt noch für die Menschen in Japan zu, welche dazu neigen, sich den Verhältnissen anzupassen. Wölflis Vorgehensweisen stehen dem konträr gegenüber.

HST: Was sehen die japanischen Besucher in Adolf Wölflis Werk?

TH: Sie sind fasziniert von seiner Arbeitsweise, die Art, wie Wölfli sich vollkommen in die Ausführung seiner Kunst vertieft. Die japanischen Besucher können am Beispiel seines Werks erkennen, was Dubuffet mit der Verwendung des Begriffs „brut“ gemeint hatte. In Japan wird der Begriff „Art Brut“ heute immer mehr in einen Zusammenhang mit politischen und sozialpolitischen Fragen gestellt, die die soziale Integration von behinderten Menschen aufgreifen. Das hat dazu geführt, dass der Begriff „Art Brut“ allgemein als Synonym für Arbeiten von behinderten Menschen verstanden wird, ohne Fragen zur Qualität damit zu verbinden. Jene Besucher, welche die Ausstellung von Adolf Wölfli gesehen haben, können den Unterschied zwischen der ursprünglichen Bedeutung der „Art Brut“ und der Kunst von behinderten Menschen im Allgemeinen besser verstehen.

HST: Harald Szeemann zeigte Adolf Wölfli in verschiedenen seiner berühmten Ausstellungen und verhalf dem Werk zu einer grösseren Aufmerksamkeit im Feld der zeitgenössischen Kunst. Ist die Unterscheidung von Art Brut und zeitgenössischer Kunst heute immer noch gültig.

TH: Szeemanns Sicht ist sehr überzeugend und ist für das Verständnis von Wölflis Kunst immer noch prägend. Die Ideen von Szeemann wurden von Massimiliano Gioni für die Ausstellung „Palazzo Enciclopedico“ an der 55. Biennale von Venedig wieder aufgenommen. Auch wenn die beiden Kuratoren das Feld der zeitgenössischen Kunst erweitert haben, so bestehen weiterhin Abgrenzungen zur Art Brut. Die Rolle, welche sie für die Auflösung der Grenzen zwischen Outsidern und Insidern einnahm, bestätigt paradoxerweise wiederum die Unterschiede. Heute bewegen wir uns in einer globalisierten Welt und die Kunst ist weitgehend kommerzialisiert. Unter diesen Voraussetzungen hat die Art Brut als Gegenbewegung eine neue Bedeutung erlangt, und sie ist heute bedeutender noch als zu jenen Zeiten, in denen Jean Dubuffet den Begriff prägte. Art Brut warnt uns vor den Extravaganzen der Globalisierung und unterscheidet sich vom kulturellen Relativismus der Gegenwart.

HST: An welchen Projekten arbeiten Sie aktuell?

TH: Ich beschäftige mich seit fünf Jahren mit dem Werk von Masao Obata. Obata gehört zu den wichtigsten Künstlern der japanischen Outsider Art und hinterliess mehr als 1000 Werke, als er 2010 verstarb. Zusammen mit Kuratoren und Rechtsspezialisten arbeite ich an der Erschliessung dieses Werks. Vieles haben wir erreicht und einige Museen und Galerien in Europa und Japan werden sein Schaffen in naher Zukunft zeigen. Ich unterstütze als Kenner seines Werks diese Institutionen, um dadurch die Projekte möglich zu machen. Ich plane ausserdem in Zusammenarbeit mit Forschern in Japan und der Schweiz die Veröffentlichung der japanischen Übersetzung von Walter Morgenthalers Buch „Ein Geisteskranker als Künstler: Adolf Wölfli“, das 1921 erschienen ist. Ich bin also sehr glücklich, dass die Zusammenarbeit mit der Adolf Wölfli-Stiftung mit dem geplanten Projekt fortgesetzt werden kann.

 


English Version of the Interview

Adolf Wölfli in Japan : A Kingdom of 25,000 Pages – An Interview about the Wölfli-exhibition in Japan with Tadashi Hattori

Adolf Wölfli’s art is currently on show in a retrospective exhibition at Tokyo Station Gallery (until June 20). This is the last station of a series of venues for the exhibition, which was first shown at the Hyogo Prefectural Museum of Art in Kobe and then at Nagoya City Art Museum. This tour was organized by the Chinuchi Shibun in Nagoya. We have the art historian and Art Brut expert Tadashi Hattori from Konan University in Kobe to thank for initiating this exhibition project for Japan. Hilar Stadler, curator of the Adolf Wölfli Foundation, talked to Tadashi Hattori in an interview during preparations for the exhibition at Tokyo Station Gallery in May 2017.

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Tadashi Hattori and Hilar Stadler, Tokyo Station Gallery, Tokyo

Hilar Stadler: You worked seven years to realize the Adolf Wölfli exhibition, the first retrospective show of this artist in Japan, which you organized together with the Adolf Wölfli Foundation at the Kunstmuseum Bern. What does Adolf Wölfli’s work mean to you and what is the focus of the exhibition?

Tadashi Hattori: The works of Adolf Wölfli reawakened the strong interest of my younger days in the field of Art Brut or outsider art. I was greatly attracted to his work when visiting the Collection de l’Art Brut in Lausanne for the first time at the age of 20. In Japan, his works have been shown only seldom in some small and local exhibitions. The current exhibition strives to give a general view of his whole life and oeuvre to a Japanese audience by presenting a retrospective that comprises a representative selection of works from his entire oeuvre.

HST: You are one of the leading specialists on Art Brut in Japan und you are well connected within the western art world. What characterizes Adolf Wölfli’s work in contrast to other manifestations of Art Brut?

TH: Obviously, Adolf Wölfli is one of the most important figures among Art Brut artists. He is a symbolic authority due to the fact that Dubuffet coined the term “Art Brut” after discovering Wölfli’s work in 1945 as well as that of Aloïse and Heinrich Anton Müller. But not only this – his unique understanding of the world makes him outstanding, and the same is true for his endless creativity in engendering his own universe with its infinite scope, exceeding by far that of other artists. Neither the field of Art Brut nor in the world of contemporary art do we find anything even remotely similar to his work.

HST: Adolf Wölfli executed drawings, was a writer and composer. In the eyes of Harald Szeemann, Wölfli’s oeuvre was a Gesamtkunstwerk. What aspect of Wölfli’s art especially appeals to you? Is there a particular work by the artist in the exhibition you prefer to all others?

TH: Yes, his work is a kind of composite art just like opera, which is a splendid combination of music, narrative and scenography. In regard to his formal principles, I like his arrangement of motifs, being so closely knit that they practically fill all voids. In regard to subject matter, I am extremely fascinated by the aggressive mode of expression he adopts in compositions such as in drawing The Assassination of the Locksmith and Journeyman Tinsmith Albrecht Kindler, family man, about rape, 1911, and also how deeply he was absorbed in his art world, especially in the case of the Funeral March (1928-1930).

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The Assassination of the Locksmith and Journeyman Tinsmith Albrecht Kindler, family man, about rape, 1911, From the Cradle to the Grave, Book 4, p. 271-272, Pencil and colored pencil on newsprint, 49.7×37.8cm. Adolf Wölfli Foundation, Kunstmuseum Bern

HST: More than 30,000 people saw the show at the two first venues and you expect even more for the Adolf Wölfli show at Tokyo Station Gallery. The first edition of the book of around 6000 copies that has been published for the exhibition is sold out. A second edition will be printed. How do you explain the show’s overriding success in Japan?

TH: It is quite fair to say that this exhibition is so successful because the Japanese people had hardly heard of the name Adolf Wölfli prior to the show. The mode in which the artist executed his work, namely, by immersing himself in his inner self and shutting out the world around him, is very likely highly attractive to people in today’s world and has a special appeal in times of extreme globalization, particularly in the case of the Japanese people, who tend to be too concerned about others, which is quite the opposite to Wölfli’s take on things.

HST: What does the audience in Japan see in Adolf Wölfli’s art?

TH: They are fascinated with the way Wölfli worked, the way Wölfli devoted himself entirely to executing his art. They can understand what Dubuffet meant by using the word “brut”. In Japan, the term “Art Brut” has been recently used in conjunction with political and social welfare issues in order to promote social involvement among the disabled. Consequently, most Japanese people believe that the term “Art Brut” designates artworks made by the disabled, regardless of artistic value. People who visited the exhibition were then able to recognize the difference between genuine Art Brut and the art produced by the disabled in general.

HST: Harald Szeemann presented Adolfi Wölfli’s work in the various famous exhibitions he curated, allocating it a place in the contemporary art of the age in which he lived. Is such a classification still valid?

TH: Szeemann’s viewpoint is highly suggestive and still valid in some ways for understanding Wölfli’s art – and his overall objective was adopted by Massimiliano Gioni for the Palazzo Enciclopedico exhibition at the 55th Venice Biennale. Even though both curators intended to disrupt the framework of contemporary art, it to an extent still shares interfaces with Art Brut because the latter undergoes dissimilation in the role it plays in dissolving the boundaries between outsider and insider. Today the world is excessively globalized and the art world terribly commercialized. Under these circumstances, Art Brut has become all the more important, even more so than when Dubuffet coined the term. It cautions us to be wary of the extravagance of globalization and the cultural relativism of the present.

HST: What are you working on now? What is your next project?

TH: I have been ordering Masao Obata’s work for over 5 years now. Obata is one of Japan’s most important outsider artists. He left a legacy of almost 1,000 works when he died in 2010. Because he has no relatives or heirs, I am collaborating with some curators and legal experts to determine the successors to his estate. Now almost everything has been organized, and several museums and galleries both in Europe and Japan will show his work and mount exhibitions of his art in the near future. They will be able to call on my support as an expert of this artist’s work in realizing their presentations. I also plan to publish a Japanese translation of Walter Morgenthaler’s book Ein Geisteskranker als Künstler: Adolf Wölfli in collaboration with several Japanese and Swiss researchers. To realize this project I would be delighted if my good relationship with the Adolf Wölfli Foundation continues.

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Hilar Stadler

Hilar Stadler ist seit 2015 Leiter der Adolf Wölfli-Stiftung am Kunstmuseum Bern. Er kuratiert eine Ausstellung über Adolf Wölflis Werk, die 2017 im Hyogo Prefectural Museum of Art Kobe, im Nagoya Museum of Modern Art sowie in der Tokyo Station Gallery gezeigt wird.

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