Arnold Dreyblatt Protocols of the Future
Arnold Dreyblatt Protocols of the Future, Kunstmuseum Bern République Géniale Freitag/Samstag, 12./13. Oktober 2018
«Es müssen Dinge gedacht und gemacht werden die etwas Neues für die Zukunft bringen.» «Risiko der Freiheit.» «Wie der Mensch aus eigenen Kräften die Welt bestimmen kann.» Solche Sätze liegen auf den Plakaten, welche die Bühne im Ausstellungsraum von République Géniale im Kunstmuseum Bern bedeckten. Die Künstlerin Monika Brandmeier setzt sich an ihren Tisch und legt ihre Papiere vor sich hin. Die anderen Lesenden betreten ebenfalls die Bühne und richten sich ein. Wir nehmen Platz im Publikumsraum…Die Lesung beginnt.
Die Quellen zu der Leseperformance Protocols of the Future, komponiert vom Berliner Künstler Arnold Dreyblatt, stammen aus der Geschichte der FIU Free International University – Freie Internationale Universität. Die Freie internationale Universität für interdisziplinäre Forschung war ein Projekt der 1970er Jahre, initiiert von Joseph Beuys, Heinrich Böll, Klaus Staeck, Willi Bongard und vielen anderen. Die Gruppe von Kunstschaffenden – Frauen waren nur zwei dabei, darunter Eva Beuys – versuchte über 15 Jahre hinweg ein solches Schulprojekt im Raum Düsseldorf Köln auf die Beine zu stellen. Es bildete sich um den Gründungsrektor Joseph Beuys eine Gruppe, um diese Institution und ihre Lehrangebote zu entwickeln: Workshops, Tagungen, Ausstellungen, Publikationen, sozioökonomische Modelle, Gesetzestexte. Der FIU wurden verschiede Raumangebote im Raum Düsseldorf und Köln angeboten; sie wurden geprüft und verworfen. Stiftungen boten Finanzierungen an. Vieles wurde von der FIU abgelehnt, weniges nur realisiert, darunter die Teilnahme und Ausrufung der FIU durch Joseph Beuys an der documenta 6 / 1977 in Kassel und das Schreiben eines Manifestes.
Am Freitag und Samstag, 12./13. Oktober 2018 sassen im Kunstmuseum Bern also sieben Frauen und ein Mann auf dem Podest, die Ereignisse aus den FIU-Sitzungsprotokollen vorlasen. Der Mann – ein Schauspieler – hatte die Rolle des Erzählers, die Frauen verkündeten die Ideen und Besprechungen der Männer, welche die Versuche der Einrichtung dieser interdisziplinären Bildungsanstalt nacherleben lassen. Das Stimmengeflecht aus den Protokollen im Zeitraum von 1973 bis 1977 gibt die gesellschaftlichen Vorstellungen zu Bildung für eine breite Bevölkerung (Joseph Beuys: Volkspädagogik), zu Freiheit und Entstaatlichung der Bildungsmodelle und vor allem die basisdemokratischen Diskussionen der Gruppe um die FIU wieder. Freiheit und Autonomie, Zusammenarbeit und das Überschreiten von Disziplinen waren grosse Themen an den Sitzungen. Der Staat hätte bezahlen dürfen, aber nicht mitbestimmen. Frauen und Männer waren Mitglieder, geredet hatten vor allem die Männer. Ab und zu wird etwas erreicht, beispielsweise die Gründung der FIU-Gruppe in Amsterdam um Jacobus Kloppenburg. (1)
Arnold Dreyblatt hat für seine Lese-Performance The Protocols oft he Future im Berner Kunstmuseum von Klaus Staeck die Protokolle zu den Sitzungen der FIU erhalten. Dreyblatt arbeitet in seiner künstlerischen Arbeit permanent mit gefundenen und / oder ihm übergebenen historischen Dokumenten, welche Fragen zur Datenerhebung und Datensicherung zu bestimmten gesellschaftlichen Strukturen, Ereignissen und Bevölkerungsgruppen stellen. Es werden alltägliche gesellschaftsgeschichtliche und kulturelle Praxen in seinen Installationen und Lese-Performance befragt. Der Anteil von Bildung und Vermittlung ist in seiner künstlerischen Arbeit seit den 1990er Jahren präsent. (2) Der Künstler bringt die ihm übergebenen Dokumente am Ausstellungsort in eine entsprechende Ausstellungsform, die oft archivarische Einrichtungen zum Thema macht (Vitrinen, Regale, Fischen, Plakate, Kartonschachteln, digitale Archivelemente wie Datenbanken, Apps). Ein zentrales Element in Dreyblatts Arbeit ist die (Wieder)-Aufführung von solchen Quellen im öffentlichen Raum und somit eine Verlebendigung von gesellschaftspolitischen Dokumenten und ihren historischen Spuren. Der Kontakt zur IKG (Internationales Künstler Gremium, sic!), das Dreyblatts Protocols of the Future in seine Jahresversammlung 2018 in Bern aufnahm, entstand durch die Tatsache, dass einige ihrer Kunstschaffenden auch Teilnehmer an den FIU-Sitzungen waren. Die IKG ist wie die FIU eine Institution aus den frühen 1970er Jahren: 1972 von Künstlern Joseph Beuys, Jochen Gerz, Klaus Staeck u.a. gegründet, setzt sich die IKG bis heute für Kunst-, Informations- und Pressefreiheit, Toleranz und kulturelle Vielfalt ein und nimmt damit eine äquivalente Rolle zum PEN-Club der Schriftsteller ein. Galt es zur Gründungszeit vor allem Künstlerkontakte zwischen Ost und West zu pflegen und zu fördern, stellen sich heute neue kulturpolitische Herausforderungen an das IKG.
Die sieben weiblichen Stimmen an der Lesung von Protocols oft the Future sind alles IGK-Mitglieder. Ich erhalte während der Performance eine Visitenkarte eines weiblichen Vorstandsmitgliedes zugesteckt: office IKG. Neben mir sitzt Lisa, auch ein Mitglied. Im Publikum entdecke ich Lucy, eine langjährige Kollegin aus der Kunst- und Museumsszene in der Schweiz. Lucy ist Mitglied der IKG. Viele Frauen. Und IGK bedeutet bis heute „Künstler Gremium“ und engagiert sich für kulturelle Selbstbestimmung und die Gleichstellung der Geschlechter. Hm… Für den Künstler Arnold Dreyblatt war dies ein Umstand, nur Frauen aus dem IKG für die Lese-Performance zu wählen. Sie geben den historischen Zitaten der Männer aus den 1970er Jahren eine Stimme, ein Gesicht, einen Körper. Hm…
Kreise schliessen sich. Neue und alte Themen, Erinnerungen und vor allem Hoffnungen für die Zukunft verschränken sich. Auch darüber sollte man nachdenken. Was wird aufgenommen und wie wird es aufgenommen? Sibylle Omlin, Autorin, Co-Kuratorin BONE Performance Art Festival Bern.
Quellen:
1) www.fiuamsterdam.com
2) www.dreyblatt.net
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Schlagwörter: Arnold Dreyblatt, Protocols of the Future, République Géniale, Robert Filliou