Forensic Architecture
Forensic Architecture (dt. «Forensische Architektur») ist eine Forschungsgruppe am Goldsmith College in London, welche aus Architekt*innen, Archäolog*innen, Journalist*innen, Filmemacher*innen, IT-Spezialist*innen, Jurist*innen und bildenden Künstler*innen besteht. Deren Gründer Eyal Weizman erkannte beizeiten die politischen Möglichkeiten, um Architektur als mächtiges analytisches Werkzeug bei der Analyse von Kriegsgeschehen und verbrecherischen Ereignissen einzusetzen, deren Existenz von Regierungen bestritten wird. Der Think Thank betreibt daher seit seiner Gründung 2010 eine sogenannte Gegenforensik, welche gezielt gegen staatliche Desinformationen in gerichtlichen Untersuchungen in Stellung gebracht wird. Dazu trägt Forensic Architecture in mühsamer Kleinarbeit Bilder, Zeugenberichte, akustische Erinnerungen und weitere Informationen zusammen und visualisiert mittels «digital mapping», bewegtem Bild oder 3D-Modellen die Untersuchungsergebnisse.
Das Kollektiv nutzt Video, Fotografie, verkleinerte Modelle von Gebäuden oder Kriegsschauplätzen, Text sowie Reproduktionen von Tweets und Social Media-Inhalten. Damit schafft es eine Verbindung zwischen den wenige Sekunden dauernden Vorfall, dem monatelangen Untersuchungsprozess und der oftmals jahrzehntelangen Geschichte eines Konflikts, der zum Vorfall geführt hat. Die Auswertungen ihrer Fälle werden als Gegenbeweise zu staatlicher Informationspolitik verstanden und sowohl für Gerichtsverhandlungen, für parlamentarische Untersuchungsausschüsse als auch für Ausstellungen in Kunstinstitutionen oder in Buchform aufbereitet. Forensic Architecture tritt bei Verbrechen gegen die Menschheit und gegen die Umwelt in Aktion und übernimmt ausschliesslich Mandate von zivilen Opfern, Nichtregierungsorganisationen wie UNO, Amnesty International oder Human Right’s Watch und unabhängigen Vereinen. Bei seinen Untersuchungen geht Forensic Architecture von zwei Prämissen aus: erstens hinterlässt staatliche Gewalt Spuren und zweitens verfügen die Entscheidungsträger über die Macht, diese zu tilgen. Forensic Architecture wurden im April 2018 für den Turner Prize, den höchsten Preis für Gegenwartskunst in Grossbritannien nominiert.
Während der République Géniale werden fünf verschiedene Untersuchungen, welche seit 2012 unternommen wurden, vorgestellt. Drone Strike in Miranshah (2012) sowie Drone Strike in Mir Ali (2016) zeigen Untersuchungen im Norden Pakistans, welche anhand von Zeugenberichten und der sorgfältigen Deutung von Einschlagspuren Drohnengesteuerte Bombenangriffe der CIA in den Jahren 2010 belegen. Torture in Saydnaya Prison (2016) rekonstruiert anhand der akustischen Erinnerungen von Folteropfern das Layout des berüchtigten Gefängnisses in Syrien, dessen Existenz bis heute vom Assad-Regime geleugnet wird. In Outsourcing Risk (2017) wird der Verlauf des zerstörerischen Feuerbrandes in der illegalen Textilfabrik Ali Enterprises in Karachi (Pakistan) dargelegt, bei dem im Jahr 2012 254 Menschen bei lebendigem Leib verbrannten und bis heute keiner der Überlebenden für den Schaden kompensiert wurde. Death by Rescue hingegen beleuchtet die Politik der unterlassenen Hilfeleistung im zentralen Mittelmeer anhand von zwei Schiffbrüchen, die sich im April 2015 ereigneten und in einer einzigen Woche 1‘200 Menschen das Leben kosteten. Der Videofilm 77sqm_9:26min schliesslich war als Beweis im berüchtigten NSU-Prozess zugelassen, bei dem es darum ging, dem mörderischen Trio um Beate Zschäpe den Mord an Halit Yozgat in einem Internetcafé in Kassel (6. April 2006) nachzuweisen.
Ihre Videofilme sehen Forensic Architecture als «création permanente», da sie diese jedes Mal wenn neue Informationen auftauchen, ergänzen und das Werk vor dem Hintergrund der neuen Erkenntnisse, neu zusammenfügen. Sie haben sich als interdisziplinäre Gruppe ein eigenes Territorium geschaffen, welches die jeweiligen Disziplinen für ihr Projekt einer Gegenforensik nutzt und einsetzt. Dies bringt ihnen in juristischen Kreisen den Ruf ein, «nur Künstler zu sein», während in der Bildenden Kunst ihre Identität als Künstler – trotz der Turner Prize Nominierung – bestritten wird, denn ihr Ziel ist kein ästhetisches oder gestalterisches, sondern der Aufbau einer forensischen Argumentation im Hinblick auf juristische Wahrheitsfindung. Forensic Architecture stehen wie Robert Filliou um 1968 für eine vielgestaltige Gesellschaft ein und verhandeln in ihren Werken mit sowohl wissenschaftlichen wie künstlerischen Methoden gesellschaftsrelevante Themen wie Territorium, Bildung und das Zusammenleben in krisengeschüttelten Regionen, korrupten Städten oder kriminell agierenden Unternehmen. Dafür veranstalten sie auch öffentliche Workshops, eine Art Teaching and Learning, in denen sie ihre Ideen vorstellen und Methoden transparent machen.
Website:
www.forensic-architecture.org
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