Publiziert am 24. November 2016 von Françoise Marcuard

From Moscow with Love – mit der Metro zur Kunst

BKG Kunstreise nach Moskau vom 8. bis 15. Oktober 2016

Moskaus Metro
Anna Fatyanova und Holger Hoffmann boten uns ein fantastisches, sorgfältig aufgebautes Programm, das trotz Moskauer Grossstadtverkehr immer aufging. Rund 70 km(!) legte jeder der 17 Teilnehmenden in dieser Woche zu Fuss zurück, um von den Metrostationen zu Museen, Galerien und Künstlerstudios zu gelangen. Die Moskauer Metro war das perfekte Verkehrsmittel: Angeführt von Holger, in den Massen immer zu erkennen dank seinem gelben oder pinken Schal, marschierten wir stramm wie alle anderen durch die vielen Stationen aus den 30iger Jahren der Ära Stalins, ein patriotisches Unternehmen sondergleichen. Wir durchwanderten Gänge und Hallen, wo in Mosaiken, Gemälden oder Skulpturen der sowjetische Traum immer neu dargestellt wird: Ruhm der russischen Luftfahrt, ideale Sozialisten, kraftstrotzende Arbeiter, Bauern oder Soldaten, die Idealfamilie, oder eine Ode an die Freude. Farben, üppige Stuckornamente im Barockstil und Bronzelüster. Wir staunten über diese Propaganda-Architektur und Ersatzreligion und waren gleichzeitig immer ein wenig in Sorge, Holgers schönen Schal aus den Augen zu verlieren. Denn den Anschluss an unsere Gruppe zu verlieren, war schlicht keine Option: Die meisten Stationen sind ausschliesslich in kyrillischer Schrift angeschrieben. Die Metrofahrten gewährten uns zudem einen ersten Kontakt zu den Moskowitern: ausgesprochen höfliche, zivilisierte und Rücksicht nehmende Leute, und dies im schlimmsten Dichtestress!

Moskaus Klassiker
Ikonen und die eindrückliche Malerbewegung “Russische Wanderer” in der Tretjakow-Galerie, bahnbrechende Spitzenwerke französischer Impressionisten aus den Sammlungen Morosow und Schtschukin im Puschkin Museum, die russische Avantgarde, sozialistischer Realismus und die Renaissance der russischen Avantgarde ab den 60iger Jahren in der Tretjakow und Rodtschenko im Multimedia Art Museum Moskau, diese Highlights erlebten wir unter der kundigen Führung von Matthias Frehner. Sie bilden Grundlage und Gegenpol für unsere Auseinandersetzung mit der russischen Gegenwartskunst. Wenn Matthias Frehner vor einem Bild stand, fühlten wir seine Begeisterung für die Malerei und wir profitierten alle von seinem profunden Wissen über die Hintergründe der Werke. Wir empfanden ein Bedauern darüber, dass nicht mehr von diesen qualitativ hochstehenden und zum Teil geschichtsträchtigen Werken bei uns zu sehen sind.

Im Multimedia Art Museum Moskau

Moskaus Gegenwartskunst
Die beiden Ausstellungen im Garage Museum of Contemporary Art (2008 von Dasha Zhukova und Roman Abramovich gegründet, befindet sich heute in einem von Rem Koolhaas umgebauten Gebäude im Gorkipark) befassten sich mit internationalen Künstlern, dabei herausragend Robert Longo im Dialog mit Goya und Sergei Eisenstein. Irritierend und befremdend mit Blick auf die aktuelle Entwicklung in vielen Teilen Europas war die Ausstellung “NSK – Neue Slowenische Kunst” über die rechtsextreme “Laibach-Bewegung” der 80iger Jahre.

Im National Centre of Contemporary Art sahen wir die spannende Videoausstellung „The Possibility to be Different“ mit internationalen jungen Künstlern. Die Leiterin empfing uns hier überaus sympathisch und erklärte uns auch die Forschungs- und Archivierungsarbeit dieser Institution, die aus privaten Sammlungen ab den 70iger Jahren bis zur Perestroika hervorging und bis vor kurzem als staatliches Museum unabhängig agieren konnte. Eben wurde sie mit einem konservativen Kunstverein fusioniert, sodass zu befürchten sei, dass der Handlungsspielraum eingeschränkt werde.

Im Moscow Museum of Modern Art vergnügten wir uns wie Kinder in einer interaktiven Ausstellung zum Thema Alltag oder wie wir mit den Alltagsbeschäftigungen umgehen. Der Künstler war zufälligerweise vor Ort und führte uns in die Ausstellung ein, was den Charme dieses Besuches zusätzlich erhöhte.

Sehr beeindruckend für alle war der Atelierbesuch bei Olga & Oleg Tatarintsev in ihrer kleinen Denkfabrik. Ihre Installationen drehen sich um den aktuell stattfindenden gesellschaftlichen Wandel Russlands, wie er sich beispielsweise in einer verharmlosenden Kommunikationspolitik des Staates über die Krimannexion zeigt. Die Arbeiten bestehen aus Keramikobjekten in Verbindung mit Gemälden oder anderen Gegenständen, wie z.B. in “Simulation der Normalität”, wo überdimensionierte Kinderspielbälle von Riesenküchenmessern eingegrenzt werden (zur Zeit in Zürich in der Galerie Nadja Brykina). Das sympathische Ehepaar überzeugte uns in seinem intelligenten und bescheidenen Auftreten und verwöhnte uns mit der sprichwörtlichen russischen Gastfreundschaft.

In der Triumph Gallery, eine der engagiertesten Galerien für Gegenwartskunst in Russland, wurden wir von der Galeristin und Künstlern der Galerie zu später Stunde empfangen. Einer der Künstler war Dimitry Gutov, der sich sehr intensiv mit der Kalligraphie auseinandersetzt. Zuvor zeigten uns Tatiana Arzamasova und Lev Evzovich vom Viererkollektiv Studio AES+F (die man schon letztes Jahr in Venedig an der Biennale bewundern konnte) eines ihrer verstörend schönen Videos, die durch ihre kalte Ästhetik irritieren und starke Emotionen auslösen. Wir besuchten sie am nächsten Tag in ihrem Studio im achten Stock eines Moskauer Plattenbaus. Hier konnten wir uns bei Tee und Gebäck intensiv mit ihnen austauschen und bekamen ein weiteres imposantes Video vorgeführt. Bereits anfangs Woche sahen wir im Electro Stanislavsky Theater das Theaterstück “Psychosis” von Sarah Kane, zu dem sie das Bühnenbild in Form von Videosequenzen gemacht hatten.

Im Studio des Künstlerkollektives

Im Studio des Künstlerkollektives

Das Center of Creative Industries Fabrika ist am ehesten vergleichbar mit unserm Progr in Bern: 2004 in einer ehemaligen Spezialpapierfabrik gegründet, bietet es viel Raum für künstlerische Aktivitäten. In mehreren Backsteingebäuden aus dem Ende des 19. Jahrhunderts geht es Treppe rauf und runter in verschiedene Ateliers und Ausstellungsräume, aber auch zu Produktionsräumen, die zur Finanzierung des Gesamtprojekts an innovative und junge Designunternehmen vermietet werden, sowie zu Studios von Gastkünstlern. Einer von ihnen ist aktuell der Berner Videokünstler und BKG-Vorstandsmitglied Peter Aerschmann. Er begrüsst uns herzlich mit Krimsekt und führt uns durch die spannende, von Anna Fatyanova kuratierte Ausstellung, die er zusammen mit zwei weiteren Videokünstlern gerade in einer der Fabrikhallen hat. Beim Rundgang begegneten wir vielen jungen Künstlern. Einer blieb mir besonders in Erinnerung, er stellt Portraits her, indem er verschieden farbige Klebebänder auf Stoff klebt.

Auch der Eindruck vom Studiobesuch bei VGLAZ bleibt sehr nachhaltig: Schon etwas weiter weg vom Zentrum, in einem nur noch teilweise kommerziell genutzten Industriegelände empfing uns der elegant gekleidete Künstler Gosha Ostretsov – er könnte aus einem Tolstoy-Roman stammen – in seiner originellen Galerie. Im obersten Stock eines eher schäbigen Gebäudes führte er uns auf seine Dachterrasse mit atemberaubender Sicht auf die Skyline der Moskau City. Der Künstler/Galerist hat einen ausgewählten Kreis von Künstlerfreunden, deren Werke er ausstellt. Sie waren anwesend und erklärten ihre Arbeiten, nachdem wir mit Kuchen, Tee und Wodka aufs Feinste verköstigt worden waren.

Nach einem herzlichen Empfang durch Botschafter Pierre Helg in der Schweizer Residenz, wo wir uns bei einem Stehlunch mit vielen interessanten Personen aus dem Moskauer Museums- und Kunstleben unterhalten und vernetzen konnten, besichtigten wir das sich ganz in der Nähe befindende Art4.ru Museum. Der Gründer und Besitzer Igor Markin sammelt zeitgenössische Kunst, die er dem Publikum nebst Wechselausstellungen zugänglich macht. Zudem sind Werke ausgestellt, die online gesteigert werden können. Uns faszinierten vor allem seine Kabakov-Werke.

Das Winzawod Centre for Contemporary Art befindet sich in einer ehemaligen Weinfabrik und beherbergt verschiedene und zum Teil renommierte Galerien, wie die Regina Gallery. Spannend war auch die Begegnung mit Fedor Pavlov-Andreevich in der Pechersky Gallery. Die deutsch sprechende Galeristin der Totibadze Gallery ist eine gute Bekannte von Annas Familie und organisierte uns ein herrliches Nachtessen im Restaurant des Komplexes.

Die Iragui Galerie vertritt den international arrivierten Pavel Pepperstein, der versprochen hatte, persönlich zu kommen, aber dann doch vorzog, sich stattdessen seine Haare orange färben zu lassen. Die perfekt französisch sprechenden Galeristinnen präsentierten uns mehrere seiner neuesten Werke, die ungemein gefallen.

Ganz faszinierend war auch der Besuch an der Universität für Geisteswissenschaften, wo weit weg vom Universitätsbetrieb in einer Säulenhalle ein Ausschnitt der Sammlung des Herzchirurgen Mikhail Alshibaya ausgestellt wird. Das grosse, ursprünglich als Universität angelegte Gebäude war in der Sowjetzeit zur Parteischule umfunktioniert worden und wirkt entsprechend immer noch stalinistisch. Der charismatische Sammler und Freund der Familie von Anna führte uns durch seine Ausstellung mit eindrücklichen Werken von regimekritischen Künstlern seit den 70iger Jahren, darunter Kabakov und Bulatov. Bei Dr. Alshibayas Ausführungen wurde uns bewusst, dass vielen Künstlern gerne vom Westen eine “Heldenrolle” zugeteilt wird. Nicht immer waren die Regimekritiker jedoch in einer Märtyrerrolle. Sie lebten oft ein angepasstes, angenehmes Leben und hatten eine “offizielle” Künstlerstelle inne. Daneben produzierten sie im Geheimen ihre eigentliche, wegweisende Kunst, die unter Gleichgesinnten in Privatwohnungen ausgestellt und gehandelt wurde.

Moskaus Sehenswürdigkeiten
Im bestens gelegenen und ausgezeichneten Hotel National unmittelbar neben dem Roten Platz waren wir erstklassig untergebracht. Damit hatten wir einen iealen Ausgangspunkt auch zu unseren historischen Ausflügen ins malerische Novodevechiy Kloster mit seinen wunderschönen Zwiebelkirchtürmen und dem benachbarten Friedhof mit vielen grossen Persönlichkeiten aus dem 19. Jahrhundert. Unter stahlblauem Himmel waren wir auf der Suche nach Gogols, Tschechovs und Puschkins Gräbern und entdeckten dabei viele Kuriositäten auch aus der Sowjetzeit. Der Rote Platz und der Besuch des Kremls fehlten natürlich auch nicht auf dem Programm, speziell natürlich der Kathedralenlatz mit den unvergesslichen Kirchen. Unsere energische Reiseführerin gab uns dabei eine hervorragende Übersicht über die russischen Geschichte. Ist es als Zeichen der Zeit zu werten, dass vor dem Leninmausoleum keine Schlange mehr steht? Kaum, denn von allen Politikerstatuen an der Kremlmauer fanden wir einzig bei Stalin frische Blumen.

Nicht unerwähnt dürfen die üppigen Nachtessen bleiben, wo wir mit russischen, ukrainischen und georgischen Köstlichkeiten verwöhnt wurden. Zurück in Bern bin ich glücklich über alles Erlebte und danke im Namen der Reisegruppe Anna und Holger ganz herzlich für ihren nimmermüden Einsatz für uns. Balschoje spasiba!

Veröffentlicht unter Allgemein, Gastbeitrag
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Autor

Françoise Marcuard

Françoise Marcuard-Hammer ist als freiberufliche Juristin für NGOs im kulturellen und sozialen Bereich tätig. Sie lebt in Bern, ist Mitglieder der BKG und reist fürs Leben gern. Das Entdecken von nahen und fernen Ländern beglückt sie immer wieder von neuem.

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