17½ Kilo Wert-Schriften – Adolf Wölflis gebundenes Universum
„Endsunterzeichneter fragt sie hiermit höflich an, ob Sie vielleicht geneigt wären, innert kürzester Frist bis zirka 14. Mai 1912, zirka, ebjä: Stark, 35 Pfund oder 17½ Kilo Wert-Schriften, mit über 700, grösstenteils schönen Holzschnitt, Stahlstich und Kupferstich-Hand-Zeichnungen, zahlreichen, schönen Gedichten, mannigfaltigen, grösstenteils componierten Musik u. Tanz-Liedern mit Text, Testa-ments-Eröffnungen mit beiläufigen Zins-Rechnungs-Begleitungen, mannigfaltigen Gebeten, etzettera, zum Drucken anzunehmen.“
Mit diesen Worten richtet sich Adolf Wölfli am 7. April 1912 an die Buchdruckerei Wiss in Bern. Zwar fand dieser Brief den Weg aus der Waldau zu seinem Adressaten nie. Für das Verständnis der Arbeit des Künstlers, der über die Hälfte seines Lebens in der psychiatrischen Anstalt verbrachte und erst dort künstlerisch tätig wurde, ist das Schriftstück jedoch von grosser Bedeutung. Es macht deutlich, wie zentral das Konzept des Buches für Wölfli schon früh in der Entwicklung seines Werkes war.
Als ich vor wenigen Monaten als frischernannte Kuratorin der Adolf Wölfli-Stiftung zum ersten Mal das Depot des Kunstmuseums betrat, erwartete mich eine Überraschung: Neben den Planschränken, in denen Wölflis Werke gelagert werden, steht ein grosses Gestell mit rund fünfzig von Wölflis selbstgebundenen Büchern und Heften! Wölfli zeichnete, schrieb, komponierte und kollagierte auf Papier, das er gerade zur Hand hatte – günstiges Zeitungspapier oder Papierbögen aus dem Anstaltsalltag. Dann faltete er die unterschiedlich grossen Blätter auf das aktuelle Buchformat und heftete sie mit Nadel und Faden zwischen Umschlagseiten aus recycelten Verpackungskartons ordentlich zusammen. Die Kleineren dieser erstaunlichen Buchobjekte haben das Format von ca. 25 x 40 cm, die Grösseren sind bis zu 40 x 55 cm gross – wobei deren Dicke 45 cm erreichen kann.
Wie die meisten BesucherInnen des Kunstmuseums Bern, kannte ich das ausufernde Werk Wölflis, als Blätter, die gerahmt an der Wand hängen. Tatsache ist aber, dass dieser verhältnismässig wenige Einblatt-Zeichnungen schuf, Werke also, die nicht für eines seiner Bücher gedacht war. Neben den wenigen erhaltenen Bleistiftzeichnungen von 1904 bis 1907 (sein Frühwerk), handelt es sich dabei vor allem um die sogenannte „Brotkunst“; Zeichnungen, die Wölfli herstellte, um sie zu verschenken oder zu verkaufen. Für ihn selber hatten jedoch nur diejenigen Blätter eine wirkliche Bedeutung, die er für den übergeordneten Kontext seiner „Autofiktion“ produziert hatte – Werke, die einen spezifischen Platz in einem seiner Bücher einnehmen sollten.
Diejenigen Werke, die heute im Kunstmuseum Bern ausgestellt oder an internationale Museen ausgeliehen werden, wurden in den 1970er Jahren von Elka Spoerri, der damaligen Kuratorin der Adolf Wölfli-Stiftung, zusammen mit Jürgen Glaesmer, Konservator des Kunstmuseums Bern, ausgewählt und sorgfältig aus den von Wölfli selbst gebundenen Büchern herausgelöst. Sie bilden den Grundstock für die erste Retrospektive, die 1976 ausgehend von Bern durch die ganze Welt tourte, aber auch für alle weiteren Ausstellungen. Die Bücher selbst sollten geschont werden und möglichst wenig reisen. Mit gutem Grund, denn es handelt sich bei vielen dieser fragilen Objekte um schwere, unhandliche Bündel, die von einer Person alleine nicht bewegt werden können. Darin zu blättern gestaltet sich als ein schwieriges Unterfangen; sie so auszustellen, dass ihr Inhalt einsehbar wird, ist eine konservatorische Herausforderung!
Weshalb, kann man sich fragen, hat sich Wölfli nicht mit dem Arbeiten auf losen Papieren begnügt, sondern diese konsequent zu Büchern gebunden? Nun, zum einen verlangt eine Erzählung – und darum handelt es sich hier – nach einer bestimmten Abfolge von Seiten, um in ihrer – wenn auch subjektiven – Logik nachvollziehbar zu sein. Zum anderen können einzelne Blätter verloren gehen oder weggeworfen werden… was mit vielen von Wölflis frühen Zeichnungen tatsächlich geschehen ist. Ich vermute aber, dass Wölfli sein Schaffen deshalb ausschliesslich in Form von Büchern konzipiert hat, weil Welterklärungsmodelle, seien sie religiös oder wissenschaftlich begründet, seit dem Mittelalter und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein immer zwischen zwei Buchdeckeln bewahrt worden sind. Wölflis Gesamt(kunst)werk ist denn auch nichts weniger als ein gigantischer, neuer Schöpfungsepos – eine individuelle Mythologie, in den Worten Harald Szeemanns – in dessen Zentrum Wölfli selbst steht.
Sein Wunsch, die Buchdruckerei Wiss solle seine „17½ Kilo Wert-Schriften“ drucken, ging 1912 zwar noch nicht in Erfüllung. Über die unzähligen Ausstellungskataloge und monografischen Publikationen, die bis heute über sein Werk erschienen sind, würde er sich aber bestimmt sehr freuen!
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